Dienstag, 22. November 2011

Freunderlschaft, oder: Die Krise der Sozialdemokratie.

Die österreichische Sozialdemokratie liegt 122 Jahre nach ihrer Gründung am Boden. Das ist keine Miesmacherei, das ist die Wahrheit. Sukzessive hat man Inhalte durch „Messages“ ersetzt, Menschen durch Personen. Was dabei herausgekommen ist sieht man: Ein Kanzler und seine politische Entourage, die als einzige Macht im Staate nur die Medien kennen und deren Ziel allein der Machterhalt ist.

Nun, das könnte man auch anderen Parteien und Politikern vorwerfen, sicherlich. Und wenn andere Mächte der SPÖ Verfehlungen vorwerfen, ist das natürlich auch von Kalkül begleitet. In der Politik ist der Revanchismus sowieso eine verbreitete Taktik. Dieser Politiker hat dies gesagt, der hat das hinterzogen. Es ist oft wie mit Kindern, die der Lehrer in der Pause bei einem Streich erwischt hat und die sich jetzt gegenseitig denunzieren, nur um selbst weniger schlecht dazustehen. Karlheinz hat Geld aus der Klassenkasse genommen, Udo hat in der Abwasch ein Papierschiff versenkt und Leopold hat zugesehen. Martin hat böse Buben zu Gangordnern gemacht. Josef isst unter der Stunde, Alexander raucht heimlich hinterm Papiercontainer und Werner war in Info die ganze Zeit auf Facebook.

Wenn die Menschen in unserem Land in die Zeitungen sehen, lesen sie nur das, bzw. was die jeweilige Zeitung mit Rücksichtnahme auf ihre Günstlinge und die Eigentümerstruktur davon veröffentlichen möchte. Im Prinzip besteht ja die ganze österreichische Politik nur noch aus Tingeltangel: Die FPÖ drillt sich im Phrasendreschen. Alle sagen immer und überall dasselbe, damit es beim Wähler möglichst geballt ankommt. Die Grünen versuchen es mit seriösem Populismus, einer mehr als abstrusen Technik. Das BZÖ besetzt alle übrigen Lücken: Zuwanderungskritische liberale Bürger- und Autofahrerpartei, pro NATO-Beitritt, pro Raucher. Die ÖVP streitet wie seit Jahrzehnten mit sich selbst. Der ÖAAB achtet darauf, dass die Beamten ja um keinen Cent eine Minute mehr arbeiten müssen, der Wirtschaftsbund schaut auf niedrige Körperschaftssteuern, der Bauernbund darauf, dass am reduzierten Dieselpreis für Traktoren nicht gerüttelt wird und dass die Agrarökonomen ja nicht mehr als ein Butterbrot in die Sozialversicherung einzahlen müssen. Und was macht die SPÖ? Sie eckt nicht an. Das hat sie mittlerweile perfektioniert. Welche Inseratenkampagne kann uns welche Berichterstattung sichern? Welche möglichst vage Aussage zum Fremdenrecht hindert den linken Parteirand daran sich abzuspalten? Wie viele Facebook-Accounts braucht man um beliebt zu sein? Wie können wir Politik machen ohne allzu politisch zu sein?

Unterm Strich steckt zwar die gesamte Politik in einer nicht auflösbaren Vertrauenskrise, der Sittenverfall ist aber bei den Roten am größten. Von der FPÖ hätte man sich nichts anderes erwartet, bei der Sozialdemokratie tut es einem aber weh. Im Bauch, im Hirn, einfach überall. Aus Angst vor der öffentlichen Meinung versucht man eine öffentliche Meinung zu fabrizieren, die möglichst viel mit Öffentlichkeit und möglichst wenig mit Meinung zu tun hat. Die SPÖ hat sich von allem entfernt, mit dem sie einmal verbunden wurde: Der Arbeiterschaft (die ist zur FPÖ gewandert), den Intellektuellen (wählen alle grün) und dem linksliberalen Mittelstand (geht gar nicht mehr zur Urne). Wer von den sozialdemokratischen Bundesgrößen hat sie schon einmal abseits des Vorwahlrummels besucht, die Städte, wo das Gras aus den Bahnsteigen sprießt, die Orte, deren Kerne verweist sind und verfaulen? In diesen bevölkerungspolitischen Todeszonen Niederösterreichs, der Steiermark und des Burgenlandes verirrt sich keiner von ihnen hin, wenn es keinen Fototermin mit der Kronenzeitung zur Einweihung eines Tierheimes, wenn's sein muss, auch eines Kindergartens gibt. Länder, Städte, Menschen zählen nur noch als Wahlkreise und Stimmen. Was richtig und falsch ist, interessiert heute noch weniger als früher.
„Wir werden diese Accounts umgehend blockieren.“ - Team Faymann
Ein paar Millionen mehr Schulden bereitetem ihm weniger schlaflose Nächte als ein paar tausend Arbeitslose mehr, hat Kreisky gesagt. Kontrovers, diskutabel, aber er hat es gesagt. Heute hört man nur noch Sätze wie: „Wir müssen mit dem Blick auf das allgemeine Wohl aller Generationen darauf achten, sowohl innen- als auch außenpolitisch und vor allem mit Bedachtnahme auf die europäische Integration möglichst ausgewogene Entscheidungen zu treffen, die weder die urbane Mittelschicht, noch die ländliche Haupterwerbsbauernschaft einkommenssteuertechnisch benachteiligt oder den Eindruck erweckt die Bundesregierung würde eine Gesellschaftsschicht bevorzugen oder benachteiligen.“ Der Slogan „Tee kocht man am besten mit Wasser!“ wäre wohl aufreibender. Diese Kritik gilt nicht nur für die Roten, sie gilt für alle und man könnte sie an diversen hohlen Beispielen („Wer, wenn nicht er?“ „Sein Handschlag zählt.“, „VdB“) beliebig weiterführen.

Aber es ist ja nicht nur die Phrasendrescherei, es ist die Inhaltsleere und die damit einhergehende Erfolgslosigkeit der Roten, mitunter auch mitverursacht durch die ständige  Blockadehaltung der ÖVP. Aber auch abseits davon fehlen der SPÖ die großen Visionen von einst. Wer bezahlt in 30 Jahren die Pensionen? Wie kann man das Schulsystem optimieren? Wer finanziert die Unis, wenn sie keine Studiengebühren einheben dürfen? Wie kann man sich heute noch eine Familie leisten? Fragen, auf die es keine verlässlichen sozialdemokratischen Antworten mehr gibt. Kritik daran, die aus Oberösterreich oder der Steiermark kommt, nennt man in Wien indes provinziell oder Kernölsozialismus und fährt lieber weiter den Kurs ins intellektuelle nirgendwo.
„Tiere würden Faymann wählen!“ - Neue Kronenzeitung im letzten Wahlkampf
Dabei waren die Anfänge so vielversprechend: Es war 1889 im niederösterreichischen Hainfeld, als sich die Sozialdemokratie der österreichischen Reichshälfte der K&K-Monarchie zu einer Partei vereinigte. Ihr Vorsitzender war Viktor Adler. Seine Fraktion - die Sozialdemokratische Arbeiterpartei - war, damals für eine linke Gruppierung eigenartig, eher staatstragend orientiert als umstürzlerisch. Man nannte sie sogar die K&K-Sozialdemokratie, weil sie eher antirevolutionär gesinnt war. Noch nach der Ausrufung der Republik soll Karl Renner mit Bezug auf den 1916 verstorbenen Kaiser Franz Joseph gemeint haben: „Wenn der alte Kaiser noch gelebt hätt', hätten wir uns das nicht getraut.“

Man organisierte mit nahestehenden Vereinen Streiks und versuchte die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, die zu jener Zeit so schrecklich waren, dass man es sich heute als zivilisierter Mensch kaum noch vorstellen kann. Die Menschen wohnten in Baracken, arbeiteten 12 Stunden am Tag und die Tuberkulose war ihr ständiger Begleiter. Wurden sie aufmüpfig, sperrten die Arbeitgeber sie aus dem Betrieb aus, denn die Arbeiter waren meist Taglöhner. Wurde nicht gearbeitet, gab es kein Geld und die Frage, wer sich so eine Betriebsaussperrung länger leisten konnte, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, war schnell beantwortet. Die Analphabetenrate war immens hoch, es gab keine funktionierende Gesundheitsversorgung, keine Pensionsversicherung und Gewerkschaften waren verboten. Viele Arbeiter hatten eine große Familie, die sie kaum ernähren konnten und der Alkoholismus war sehr verbreitet. Deshalb waren die ersten Wegbegleiter der Arbeiterpartei die Nichttrinker und die Einkindbewegung; der Esperantismus spielte im Bereich der Arbeiterbildungsvereine ebenfalls eine große Rolle.

Trotzdem war auch die SDAP kein Heiligenverein. Der revolutionäre Parteiflügel blieb lange immanent. Friedrich Adler, der Sohn Viktors, erschoss während des Ersten Weltkrieges den kaiserlich-königlichen Ministerpräsidenten Graf Strürgkh, der neben Franz Joseph die österreichische Kriegserklärung  an Serbien unterschrieben hatte. Die Urgroßnichte des Getöteten managet heute den Opernball.

Lange Zeit war es ein Dilemma der Sozialdemokratie sich mit ihren revolutionären Strömungen und Wurzeln auseinandersetzen zu müssen. Die Bandbreite der linken Bewegung reicht ja von der Aufhebung des privaten Eigentums über die Verstaatlichung der Industrie bis zur sozialen Marktwirtschaft. Mitten in diesem Pool der ideologischen Strömungen schwamm die SDAP, auch nach der Ausrufung der Republik. Großdeutsch, antiklerikal, antimonarchistisch und antikapitalistisch war die österreichische Sozialdemokratie nach 1918. Ideologisch machte der Begriff  „Austromarxismus“ die Runde: Marxismus, aber doch sehr Austro. Zuerst Wahlen, dann proletarische Diktatur war das Motto. Auf gut österreichisch hätte man es unter „ein bissl Revolution“ zusammenfassen können. Nach dem austrofaschistischen Putsch („Ein bissl Faschismus“) wurde die Sozialdemokratie verboten, arbeitete im Untergrund oder lief zu den Nazis über, leistete Widerstand und erstand 1945 wieder als „Sozialistische Partei Österreichs“.
Die Revolution wurde dann aber doch zu Grabe getragen. Man arbeitete in diversen großen Koalitionen mit und führte dann unter Kreisky in der Alleinregierung ein bisher nie dagewesenes Paket an gesellschaftspolitischen Reformen durch. Familienrechtsreform, Schulbuchaktion, Schüler- und Lehrlingsfreifahrt, Fristenlösung, Abschaffung der Studiengebühren und die große Strafrechtsreform waren nur einige Punkte, die damals umgesetzte wurden. Die SPÖ war der Reformmotor der Republik. 1991 wurde dann aus der inhaltlich längst in die Mitte gewanderten Bewegung die „Sozialdemokratische Partei Österreichs“.

Heute hat sie aber diese Mitte in Richtung Diffusität verlassen. Doch ihre Jünger halten ihr weiterhin die Stange. Die Sozialdemokraten sind grundsätzlich ein komisches Volk. Politikwissenschafter wissen: keine Partei spaltet sich so selten wie eine sozialdemokratische. Denn für gewöhnlich wird man dort sozialisiert. Man hat einen sozialistischen Urgroßvater, einen sozialdemokratischen Opa und Vater. Man ist bei den Kinderfreunden, bei den Naturfreunden, beim Begräbnisverein „Die Flamme“. Das Prinzip „von der Wiege bis zur Bahre“ hat sich nirgends so verwirklicht wie in dieser Partei. Doch auch das lässt nach und was einmal eine durchorganisierte Schicksalsgemeinschaft war, ist heute eine lasche Ansammlung von Altfunktionären und jungen Apparatschiks, die gerne diverse Aufsichtsrats oder Kabinettsposten besetzen.

Sozialdemokratie, das hieß einmal Gerechtigkeit und egalitäre Selbstbestimmung im Verband mit seinen Mitmenschen. Man wählt seine Vertreter und tritt für eine gerechte Umverteilung der Mittel innerhalb der Gesellschaft ein. Soweit die grundlegende Theorie. Aber jetzt? Was heißt Sozialdemokratie noch? Falsche Facebook-Accounts gründen, Wikipedia zweifelhaft editieren und Leserbriefe an die Krone schreiben? Als Sozialdemokrat, der noch auf etwas auf den ursprünglichen Wesensgehalt dieser Partei hält, muss es einen ja geradezu ankotzen, wie für das Butterbrot einer kriecherischen Hofberichterstattung jahrhundertealte humanistische Werte über Bord geworfen werden.

Wen interessieren schon Adler, Bauer und Lassalle? Heute hat ja keiner mehr TBC oder Läuse. In der Annahme, dass das moderne Prekariat mit Gemeindebauwohnung, Flatscreen, Ottakringer und Krone-Abo gut versorgt sei, hat man eine ganze Bevölkerungsschicht sehenden Auges in die Arme der FPÖ getrieben, nicht erkennend, dass Armut heute vor allem im Kopf beginnt.
„Jeder Mensch der sich für etwas engagiert, hat eine bessere Lebensqualität, als andere die nur so dahinvegetieren.“ - Bruno Kreisky
Die SPÖ macht sich nicht länger die Mühe, die Leute auf ihr Ideal zu heben, sie geht nicht mehr persönlich auf das Proletariat zu, sie tut es nur noch niveaumäßig. Warum Menschen irgendwo abholen, wenn es doch viel bequemer ist, sie stehen zu lassen. Was früher einmal sozialdemokratische Politik war, ist heute meist nur noch billige Effekthascherei. Man kann den politischen Sittenverfall zwar auch andernorts beobachten, aber der SPÖ ist er aufgrund ihrer Geschichte und ihres Anspruchs an sich selbst besonders vorwerfbar.
„Weil der Mensch zählt!“ - SPÖ Kampagne 2002

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