Montag, 18. Juni 2012

Der Depp, oder: Ein Requiem für einen Stubentiger

Mein Kater war kein sonderlich intelligentes Tier, um nicht zu sagen er war dumm wie Stroh. Am Tag an dem wir ihn bekamen, hatte er versucht durch ein gekipptes Fenster zu türmen, mit dem Ergebnis, dass er mit dem Hintern herinnen und dem Kopf draußen festhing. Er war damals etwa ein Jahr alt und in der Blüte seiner Jugend. Gerne versteckte er sich unter den Rhabarberblättern, um meiner Mutter beim Wäscheaufhängen aufzulauern und sie dann mit ziegenbockartigen Hechtsprüngen zu attackieren. Mit Vorliebe fraß er Löcher in alles, was aus Karton oder Korbgeflecht war. Den Puppenwagen meiner kleinen Schwester okkupierte er als erstes. Auch in Einkaufstaschen und Kisten kroch er mit großer Vorliebe, während er die Höhle unter seinem Kratzbaum kein einziges Mal freiwillig betrat. Er haarte alles voll, sonnte sich gemütlich auf den frisch gesetzten Gurkenpflanzen und schiss ständig ins Tomatenbeet, aber wir liebten ihn.

So liebenswürdig dümmlich er aber auch war, so blieb er doch ein Raubtier. Eine Zeit lang versuchte er offenbar meine vierjährige Schwester in der Rudelordnung unter sich zu bringen. Sobald niemand hinsah setzte er ihr immer wieder mal die Krallen an. Auch die Tierwelt blieb von ihm nicht verschont. Wir hatten ihn von einer Familie bekommen, die ihn in der Wohnung hielt. Von ihnen hatte er auch den leicht prolligen Namen Joey erhalten. Ich nannte ihn Zeitlebens meistens nur Depp und Trottel, was ihm wenig auszumachen schien, wenn man es nett sagte. Sämtliche Fenster seines ersten Zuhauses waren vergittert gewesen, um ihn an der Flucht zu hindern. Dementsprechend schnell trieb ihn sein Freiheitsdrang auch in unseren Garten, wo er nicht nur Mäuse, Blindschleichen und Spatzen, sondern auch Ratten, Eichhörnchen und jeden Frosch aus dem Gartenteich teils bis zur Unkenntlichkeit abmontierte. Jedem Ornithologen würden beim Anblick seiner Opferliste die Tränen kommen. Das Vogelhäuschen im Apfelbaum entwickelte sich seinetwegen immer mehr zum Hochsicherheitsbau. Mein vogellieber Vater montierte an allen möglichen Stellen Gitter, um ihm den Weg zum Nest zu versperren. Nichtsdestotrotz erwischte er ihn eines Tages auf dem Häuschen sitzend, wie er mit einer Pfote von oben durch das Einflugloch angelte und tatsächliche ein Kücken erwischte. Auf der panischen Flucht vor meinem Vater verzog er sich schließlich durch die Thujenhecke auf das Nachbargrundstück, wo jedoch der um sein Leben fürchtende Vogel wie ein Echolot seine Position verriet. Nach einem beherzten Griff durch den immergrünen Zaun ließ der Kater den Piepmatz fallen. Er wurde zurück ins Nest gesetzt und überlebte. Die Katze mied dafür lange Zeit den Apfelbaum.

Natürlich waren seine Jagdausflüge seinem Instinkt und nicht purer Bosheit geschuldet. Er nützte sie schließlich auch, um uns nach Katzenmanier mit allerhand ausgeweideten Kleintieren zu versorgen. Mein Wissen über die Anatomie der gemeinen Feldmaus hat dadurch enorm zugenommen. Meiner Mutter freilich machte er damit weniger Freude. Eines schönen Sommertages weckte mich ihr glockenheller Schrei aus dem Schlaf. Sie war frühmorgens und frohen Mutes barfuß auf die Terrasse und in einen aufgeblähten Rattentorso getreten. In solchen Situationen wurde unsere Katze sehr schnell zu meiner Katze und die Leichenbestattung fiel gleichfalls mir zu. Dafür schlief das rothaarige Sechs-Kilo-Fellknäuel auch liebend gern in meinem Bett und verteidigte mich todesmutig gegen meine eigenen Zehen, die - sobald sie unter der Decke hervorkamen - als Bedrohung wahrgenommen und umgehend mit Zähnen und Krallen angegriffen wurden. Wenn die Katze nicht mehr schlafen wollte, musste dafür auch ich aufstehen. Zunächst sprang er entnervt vom Bett auf den Boden und wieder zurück. Wenn das nichts nutzte, fing er an vom Fine Liner bis zum Schulheft alles zu zerbeißen was auf dem Boden herumlag. Bis mein Vater ein Brett vor die Regenrinne nagelte, hatte er auch die Angewohnheit, mitten in der Nacht und bei Regen vor meinem Fenster im obersten Stock aufzutauchen, sich auf die Hinterbeine zu stellen und die Scheiben mit seinen Vorderpfoten zu verschmieren.

Der ganze Lebenswandel des Katers war auf seine drei Grundbedürfnisse (fressen, schlafen, morden) abgestimmt. Auch das bisschen Raffinesse, das er besaß, verwendete er lediglich darauf möglichst viel und möglichst gutes Futter zu bekommen. Wenn er den Schnitzelklopfer hörte, stand er Sekundenbruchteile später vor der Küchentür und maunzte was das Zeug hielt. Den älteren Nachbarinnen machte er schöne Augen und war daher stets beleibter, als er es aufgrund seines Trockenfutterdiätprogrammes eigentlich hätte sein dürfen.

Wollte er ins Haus, setzte er sich auf die Fensterbank der Veranda und bewegte mit seinem Kopf die lose Türschnalle so lange auf und ab, bis ihm irgendjemand, vom Scheppern entnervt, öffnete. Ansonsten war er wie gesagt nicht übermäßig intelligent. Mehrmals sprang er von innen in das geschlossene Badezimmerfenster, wenn meine Mutter die Gardinen wusch und er deshalb glaubte, es sei offen. Permanent schleppte er Zecken nach Hause und immer wieder hatte er ganze Krallen anderer Katzen in seinem Schädel stecken, die dann mitsamt dem Eiterherd entfernt werden mussten.

Im Grunde war er ein egoistischer Schmarotzer wie alle Katzen, aber er wusste auch mit seiner flauschigen Aufgedunsenheit zu bestechen. Gerne begrüßte er uns im Garten mit einem ausgedehnten maumaumau, als wollte er von seinem letzten Vogelmord erzählen und wenn er ins Wohnzimmer kam, gurrte er wie eine Taube, um seine Anwesenheit mitzuteilen. Wenn er es sich auf einem bequem machte, dann nur der Länge nach zwischen den ausgestreckten Füßen, von wo aus er einem dann gerne schnurrend seinen Hintern ins Gesicht hielt. Wenn er besonders entspannt war, fing er an zu sabbern und seine Krallen rhythmisch ins Beinfleisch seines menschlichen Kanapees zu treiben. Damit machte er sich insbesondere bei meiner Mutter genauso unbeliebt wie mit seiner Angewohnheit die Hälfte des Inhaltes seiner Wasserschüssel mit den Pfoten über den Boden zu verteilen.

In den letzten Monaten war er aber nicht mehr der Alte. Auch wenn er schon längere Zeit nicht mehr mit Anlauf über die drei Meter hohe Lärmschutzwand springen konnte, um auf den Bahngleisen Ratten zu jagen, war er für seine 14 Jahre doch noch recht agil gewesen. Eines Tages fand man ihn aber völlig schlaff im Garten liegend. Danach hatte er immer häufiger solche Schwächeanfälle. Auch, wenn es schwer vorstellbar ist, so baute er auch geistig noch weiter ab. Sinnlos schreiend stand er minutenlang im Treppenhaus, ohne zu wissen, was er wollte. Einmal machte er, was er zuvor nie getan hatte, in ein Bett. Nach seinem letzten Kollaps meinte die Tierärztin, seine übrigen Organe wären in Ordnung, aber vermutlich habe er einen Hirntumor, Hirnschlag oder Epilepsie. Am vergangenen Freitag musste man ihn schließlich einschläfern.
Wenn es einen Katzenhimmel gibt, jagt er dort jetzt vermutlich fliegende Schnitzel und springt durch offene Badezimmerfenster.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen