Schon auf dem Weg zum Westbahnhof
steigt eine divenhafte Mittfünfzigerin in die U3 zu, die mich irgendwie an die
Filmfigur der Scarlett O'Hara erinnert. Sie wirft sich und ihr schwarzes
Sommerkleid theatralisch gegen die Tür, umklammert beide Griffe schon beinahe
lasziv und wirft mir durch ihre strohigen schwarz gefärbten Haare Blicke zu, die
mich dezent irritieren und daher geflissentlich ignoriert werden. In der
Station Westbahnhof verlässt sie den Silberpfeil so dramatisch wie sie ihn
betreten hat und ist augenblicklich wie vom Winde verweht. Kurz darauf schieben
im Bahnhofsgebäude zwei Bundesbahn-Securities einen adipösen Herrn im Rollstuhl
zum Bahnsteig. Ich frage mich noch, warum er so einen komischen Stempel auf dem
Bein hat, dann erste sehe ich, dass es eine Prothese ist.
Musste ich bei meiner letzten
Zugfahrt noch mit meinem Bahnschicksal hadern – die schnellste Bahn Europas
blieb noch vor Purkersdorf wegen technischer Gebrechen liegen – so ist es mir
diesmal scheinbar wohlgesonnen. Der Railjet fährt diesmal ungewöhnlich früh in
den Bahnhof ein und rettet mich so davor, in meiner langen Diensthose und dem
Hemd noch an Ort und Stelle zu schmelzen. Weil ich über den Arlberg will und
nicht schon im düsteren Innsbruck versumpfen möchte, muss ich bis fast ans Ende
des Bahnsteigs gehen, der hintere Zugteil wird in Tirol abgekoppelt. Dafür sind
nur wenige Passagiere da, bis zur Abfahrt werden auch nicht wesentlich mehr
zusteigen. Knapp hinter der hässlichsten Provinzhauptstadt auf Gottes weiter
Erde (d. h. St. Pölten) verfalle ich auf die Idee festzustellen, ob ich diesmal das
Glück habe, in einem jener Wagons zu sitzen, die bereits mit W-Lan ausgestattet
sind. Dazu könnte ich freilich den Computer einschalten oder aber aufstehen und
nachsehen, ob die Tür ein entsprechendes Hinweispickerl hat. Weil ich ein sehr
fauler Mensch bin, beschließe ich aufzustehen, bevor ich meine alte Ratterkiste
von Laptop, die zum Hoch- und Runterfahren länger braucht als ein japanisches
Atomkraftwerk, in Betrieb nehme. Auf dem letzten Platz im Wagon hat sich jemand
breit gemacht und streckt sein Bein über den ganzen Gang. Normalerweise würde
ich dann einfach „darf ich kurz“ sagen, aber die besagte Extremität besteh aus
einem Stahl-Karbon-Verbundstoff. Ich frage mich wegen der ungewöhnlichen
Dichte an Monopäden, ob vielleicht in Salzburg ein Einbeinigenkongress stattfindet
und drehe wieder um, weil Behinderte zwar immer gerne betonen, wie alle anderen
behandelt werden zu wollen, es mir aber doch unpassend erscheint, den Cyborg zu
fragen, ob er sein Blechteil mal zur Seite rücken kann.
In St. Pölten steigt ein greiser
Vater mit zwei kleinen Kindern ein. Während die hochschwangere Mutter vom
Bahnsteig aus winkt und der etwa vierjährige Sohn intensiv seinen Bauchnabel
inspiziert, veranstaltet die Tochter ein Abschiedsschreikonzert bei dem sie das
Wort Mama die gesamte menschliche Hörsequenz hoch und runter intonisiert. Mich
retten indes meine Kopfhörer. Später hat der einbeinige Bandit seine
Gangblockade beendet und lässt mich zur Zugtür vor, die natürlich kein
W-Lan-Pickerl hat. Auf dem Rückweg sehe ich wie der an den Armen reichlich
tätowierte Käpt’n Ahab sich die Zeit mit seinem Ipad und einem Spiel mit bunten
Förmchen vertreibt. Ich ertappe mich bei der Frage, ob sein rechtes Bein wohl
auch mal tätowiert war und wenn ja, warum er sein neues Go-go-Gadgeto-Haxerl
nicht auch hat kolorieren lassen. Ich frage mich auch, ob ich mich deswegen
schämen sollte, verneine das Vorhandensein moralischer Friktionen aber
umgehend.
In Linz sind es schon mehr Leute,
die gern mitfahren möchten. Ins vorderste Abteil verirren sich indes nur eine
leicht frustriert wirkende Blondine mit verhärmten Gesichtszügen – ich tippe
auf Genderforscherin – ein Hippie mit langen blonden Haaren, der später auf
seinem Computer irgendwelchen faden 3D-Modelle herumjonglieren wird, und ein vollschlanker
Typ im grünen Polohemd, der innert einer halben Stunde wegdöst und dabei im
vorderen Wagenteil seinen leicht unangenehmen Körpergeruch verbreitet.
In Salzburg verlässt der Invalide den Zug, dafür steigen ein paar
Vorarlberger ein, die schwer nach Präsenzdienst, sprich Alkohol riechen. Ihr
Gegröle und primateskes Gehabe lassen mich an der bisherigen Theorie der Evolution
des Menschen zweifeln. Vielleicht ist er ja doch im Bregenzerwald von den
Bäumen gestiegen. Als sich nach etwa 20 Minuten ein impertinenter Gestank breitmacht, dem selbst der Dicke im grünen Leiberl nichts entgegenzusetzen hat,
stelle ich fest, dass sich zwei Exemplare des Homo Waldensis Brigantiorum die Schuhe – wider
Erwarten keine Holzklocks – ausgezogen haben. Jeder der beiden besitzt ein
völlig ramponiertes Smartphone, das wohl Rückschlüsse auf nicht nur
Display-vernichtende nächtliche Saufgelage ziehen lässt. Um ihren Pegel zu
halten haben die Herren bereits zwei Heineken gezwickt. Während sie allerlei
stupides Gedöns von sich geben und ihr Schuhwerk desodoriert, als wäre darin
eine Familie lepröser Skunks verendet, bekomme ich doch noch ein schlechtes
Gewissen, als ich mir für kurze Zeit wünsche, die Einbeinigenquote wäre heute
noch höher gewesen.
Ich stehe kurz auf, um mir die
Füße, gottseidank hab ich zwei, zu vertreten, da wandert einer der Iltisse an
mir vorbei. Von einer fast lächerlich geringen Körpergröße, kostet es ihn schon
Mühe zwei leere Plastikbecher vom unbeaufsichtigten Verpflegungswagerl zu
fladern, um sich und seinen beschränkten Freunden roten Wodka zu kredenzen. In
der Tat könnte er wohl problemlos mit seinem Gangsterkapperl unter jedem
Beistelltisch durchgehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Wäre er nicht angezogen
wie ein Liliputaner aus der Bronx, würde er mit seinen behaarten Tretern sogar
als Hobbit durchgehen. Während einer seiner Saufkumpanen bereits WO gegeben hat
oder am Gestank seiner eigenen Füße zugrundegegangen ist, schauen sich zwei
andere – von denen einer sehr ansehnliche
Ich-will-mal-große-Löcher-in-den-Läppchen-haben-Ohrringe trägt – einen sicher
sehr geistreichen Film an. Der Homunkulus selbst spielt mit seinem Handy.
Während wir in Innsbruck
einfahren, erinnere ich mich an die grauslichste Bosna, die ich in meinem Leben
jemals – und zwar ebenda – gegessen habe. Verkauft von einer Wurstwarenfachfrau,
die wie eine Dogge-Mensch-Hybride aussah, schmeckte sie wie vorverdautes
nordkoreanisches Gefängnisfutter. Ich würde Sie jetzt gerne vor dem
Würstelstand warnen, weil ich mich aber in Innsbruck nicht auskenne, kann ich
nur raten: Meiden Sie die Doggenfrau!
In Innsbruck wird die fröhlich
stinkende Zuggesellschaft durch zwei Herren und eine Dame um die fünfzig
bereichert, mit einem Dutzend weiblichen und ein paar männlichen Teenager
im Schlepptau. Die Polonäse aus gefälschten Luis-Vuitton-Taschen und
schwarz-weiß gefärbten Haaren lässt mich an die altägliche
Berufsschülerprozession denken, die sich immer an meiner Schule vorbeibewegte.
Ich nenne die Ladys bei mir Tschessika, Wanessa-Kimberlie, Schantall oder
Sindi-Kiara und frage mich, ob sie wohl zu einem Außendreh von ATV oder RTL II
unterwegs sind. Eine trägt ein Jeanoberteil zu Jean-Hot-Pants, was so nach 80er ausschaut, dass
ich jeden Augenblick den Geist von Patrick Swayze erwarte, der in den Gang
springt und „Wo ist mein Baby?“ schreit. Die, die ich Tschessika getauft habe,
trägt ein Oberlippenpiercing und würde an und für sich gut zum diebischen
Schrumpfwälder passen, der eines im Nacken hat. Nur leider geht er ihr gerade
mal bis zum Bauchnabel und wenn sie nicht will, dass er ihr da die Flusen
rauspustet, ist er als Partner für sie leider doch eher ungeeignet.
Vor St. Anton gehen zwei Herren
mit Polizeiwesten durch, nehmen aber niemanden mit. Ich bete für den Tag an dem
Stinkfüße und Dummheit strafbar werden. Nach dem Arlberg habe sich auch die
Teenieweiber ihrer Schuhe entledigt, laufen mit teils blau lackierten
Zehennägeln herum und kreischen, als müssten sie ihre Beschränktheit noch unter
Beweis stellen, Sätze wie „Heast Oida bist deppert?“ oder „Isch koa Ruhezone
Alter!“ durch die Gegend. Vor mir werfen sich immer wieder 90 Kilo
Migrationshintergrund in den Sessel und lassen meinen Laptop auf und ab hüpfen.
Als der gute Emre dann im kollektiven Übermut irgendwas auf dem Tisch
verschüttet zuckt der Begleiter, der um den Hals ein Kettchen mit einem
Goldkreuz trägt, aus: „Jetzt putzesch des zemma, susch krüagsch no a Ohrfiega
zum Schluss, bevor i mi verabschied!“ Pädagogische Befähigung des
Aufsichtspersonals und Niveau der Zubeaufsichtigenden gehen scheinbar Hand in
Hand. Eine lehnt sich müde an ihre Sitznachbarin und erntet prompt den Spruch
„Bist du lesbisch oder sowas?“ Am Ende habe ich - wer will es mir verübeln? - die Minuten nach Feldkirch gezählt. Und Gott sei Dank: Der Zug war pünktlich.
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