In 49 Tagen ist es endlich soweit, dann wird Belgien Weltmeister sein. Nur freut sich auf diese Meisterschaft nicht jeder, denn am 28. März 2011 wird die Heimat von Tim und Struppi womöglich jenes Land in der Geschichte der modernen Staatlichkeit sein, das am längsten ohne Regierung auskommen muss. Bisheriger Rekordhalter mit 289 Tagen ist der Irak (siehe Countdown). Nun liegt die Hauptproblematik der ganzen Sache viel weniger in gewöhnlichen politischen Streitfragen begründet, wie das hierzulande der Fall sein könnte. Es geht nicht um die Frage der Ganztagsschule oder um die Abschaffung der Wehrpflicht. Nein, Belgien - das seit den 90ern ein Berufsheer hat - wird grundsätzlich infrage gestellt, oder wie der Wiener sagen würde: „Für wos brauchma des no?“
Als sich das Land vor 181 Jahren vom Vereinigten Königreich der Niederlande loslöste und für unabhängig erklärte, gab es dafür genau einen Grund: Die Gretchenfrage. „Sag, wie hast du's mit der Religion?“ fragten sich die Belgier wohl selbst und weil sie sich als Katholiken unter der protestantischen Mehrheitsbevölkerung nicht so sehr respektiert fühlten, machten sie Zores, was in den Geschichtsbüchern unter „Belgische Revolution“ Eingang fand. Passend zu Belgien, weil in sich nicht ganz stimmig, nahmen sie sich dann einen Protestanten zum König, Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld. Der arme Poldi war zuvor schon als britischer Prinzgemahl gescheitert - Frau weggestorben - und hatte die Griechische Krone abgelehnt. Sein Sohn machte vor allem als Sklaventreiber Karriere. Er erwarb den Kongo - heute Demokratische Republik Kongo - als Privatbesitz und ließ widerwilligen Sklaven schon mal die Gliedmaßen amputieren, während er sich in Europa als Wohltäter und Retter der Schwarzen feiern ließ. Weil die Sache dann aber doch rauskam und Verstümmelung, Folter und Mord schon im 19. Jahrhundert nicht mehr zu den gesellschaftsfähigen Sanktionsmaßnahmen zählten, musste Poldi zwei seinen schönen Kongo dem Belgischen Staat vermachen, der sich noch heute über Reparationsforderungen freuen darf.
Nun ist Belgien aber nicht Belgisch Kongo und es bleibt nach wie vor die Frage, wo die Probleme denn herkommen. Das einende Band des Katholizismus hat nachgelassen, auch wenn heute sogar das Königshaus katholisch ist. Wie in den meisten Ländern Westeuropas interessiert sich außer dem Staatsanwalt kaum einer mehr für das Treiben in der Kirche. Und so stellt man sich in Belgien heute Fragen wie: „Sag wie hast du's mit der Sprache?“ oder „Sag wie hast du's mit der innerstaatlichen Lasten- und Einnahmenumverteilung?“
Belgien hat über 10,8 Millionen Einwohner, wovon über 60% Flamen sind, also Niederländisch sprechen. Der Rest verteilt sich großteils auf die französischsprachigen Wallonen und nicht einmal 75.000 Beutedeutsche, die nach dem Ersten Weltkrieg geschluckt wurden, als hätte man noch eine Sprache mehr gebraucht. Als es den Flamen in den 60ern dann endgültig zu bunt wurde, dass der belgische Zentralstaat mehrheitlich auf französisch verwaltet wurde, begann man mit der schrittweisen Dezentralisierung, modelte das Land schließlich 1993 zum Bundesstaat um und gewährte den Sprachgruppen Autonomien, die seitdem sukzessive ausgebaut wurden. Sogar das germanische Liliput um Eupen-Malmedy hat jetzt sein 25-köpfiges Minimundusparlament und darf einen auf Teilstaat machen.
So weit so ungut. Die Geschichte ist natürlich noch viel verzwickter: Früher war die Wallonie in der belgischen Zweckehe die Geldbringerin, seit aber die Industrie dort unaufhaltsam dem Niedergang verfiel, ist Flandern finanzstärker und denkt natürlich nicht im Traum daran der faulen Francophonie auch nur einen Cent in den waffelnverschlingenden Rachen zu werfen. Die Wallonen haben als die Ärmeren naturgemäß wenig Lust diesen Umstand ständig unter die Nase gerieben zu bekommen oder den reichen Gatten ohne Abfindung ziehen zu lassen.
Ein weiterer Knackpunkt ist Brüssel. Es ist die Hauptstadt Flanderns und offiziell bilingual, aber praktisch französischsprachig. Wer glaubt der österreichische Föderalismus sei Komplex, dem sei gewahr, dass es in Belgien nicht nur drei Regionen (Flandern, Brüssel und Wallonie), sondern auch drei Gemeinschaften (flämische, französischsprachige und deutschsprachige Gemeinschaft) und vier Sprachgemeinschaften (französische, niederländische, deutsche und zweisprachige (Brüssel)) gibt. Die beiden großen Regionen zerfallen nochmals in 10 Provinzen. Der Sprachenstreit hat sich mittlerweile so tief eingefressen, dass die Provinz Barbant, die die Hauptstadt Brüssel umgibt, in zwei Provinzen geteilt werden musste. Zweisprachige Schilder werden - besonders von flämischen Separatisten - häufig übersprüht. Auf Kinderspielplätzen gibt es Aufschriften á la „Tun Sie sich und Ihrem Kind einen Gefallen und sprechen Sie nur Niederländisch mit ihm.“ Um eine weitere Francophonisierung des Brüsseler Umlandes zu verhindern, dürfen nur niederländischsprachige Belgier dort hinziehen, weshalb man als Wallone zum Europäischen Gerichtshof gehen muss, um für sich die Niederlassungsfreiheit, die ein Portugiese in Finnland genießt, im eigenen Land einzuklagen.
Das Ganze hat natürlich seine Ursachen. Bevor die flämische Bewegung die Entwicklung Belgiens zum Bundesstaat durchsetzte, war der niederländischsprachige Landesteil einer schleichenden kulturellen Umwandlung unterzogen. Da nur wenige Wallonen ausreichende Niederländischkenntnisse besitzen, aber die meisten Flamen gut Französisch sprechen, ist Letzteres die im gemeinschaftlichen Verkehr de facto vorherrschende Sprache. Auch die königliche Familie mit Albert II. (dritter Vorname Humbert) an der Spitze ist francophon, was ihr Ansehen im flämischen Landesteil nicht maßgeblich steigert. Die Situation ist mittlerweile so aufgeheizt, dass diverse Politiker schon paranoide Züge zeigen. So äußerte sich der flämische Separatist Bart De Wever im Spiegel-Interview über die Rolle des Monarchen:
„Es ist ein Problem, dass der König noch eine politische Rolle spielt. Wenn es eine Krise gibt, wird der König wichtig, er führt die Regie bei der Regierungsbildung. Für uns Flamen ist das ein Nachteil, weil der König nicht so denkt wie wir. Für die Wallonen ist es ein Vorteil, weil sie mit ihm verbündet sind. Wir sind für die Republik“ De Wever
Dass ein Staatsoberhaupt sich nicht unbedingt für die Zerstückelung seines Landes ausspricht, dürfte kaum verwundern. Dass er deshalb schon mit den Wallonen unter der Decke stecken soll, zeigt wie ernst es den Flamen mit der Trennung ist. Sie wollen keine Eheauflösung wegen Zerrüttung, sie wollen eine Scheidung aus Schuld.
Dass jemand wie Herman van Rompuy - seine unaufdringliche Art in allen Ehren - als eine der letzten Hoffnungen des belgischen Staates galt, bevor er ein anderes Büro in Brüssel bezog, zeigt, dass das Beste was diesem Land zurzeit noch passieren kann das politische Wachkoma ist. Der König hat mittlerweile den sechsten Vermittler ernannt, der eine Regierungsbildung zustande bringen soll. Die fünf Vorgänger haben allesamt ihr Amt wieder niedergelegt. Man braucht nicht zu glauben, dass sich Christlichsoziale und Christlichsoziale verstehen, auch wenn sie verschiedene Sprachen sprechen. Nicht in Belgien. Es gibt eine wallonische Sozialistenpartei und eine flämische, das gleiche gilt neben den genannten Konservativen auch für die Liberalen. Im Abgeordnetenhaus sind von 150 Mandataren 39 Angehörige explizit separatistischer flämischer Parteien („Neue flämische Allianz“ 12 Mandate (rechts) und „Vlaams Belang“ 27 Mandate (sehr rechts)), die zum Teil deutlich einen an der Waffel haben (man verzeihe mir das billige Wortspiel):
„Nach der Ermordung eines 17-Jährigen, die zunächst fälschlich Nordafrikanern angelastet wurde, forderte Flanderns rechtsradikaler Vordenker Paul Belien, verheiratet mit einer VB-Abgeordneten: "Gebt uns Waffen. (...) Die Raubtiere haben Messer. Von klein auf haben sie beim jährlichen Opferfest gelernt, wie sie warmblütige Herdentiere abstechen. (...) Not kennt kein Gebot."“ (Der Standard)
Der Protestbelgier 2030? |
Die Lage ist schon so ernst, dass tausende Belgier unlängst - man stelle sich das einmal in Österreich vor - für eine Regierung demonstrierten. Es wurde sogar ein Rasurstreik ausgerufen, demzufolge sich alle Teilnehmer verpflichten ihre Bärte erst wieder zu stutzen, wenn Belgien eine Regierung hat. Vielleicht wird die Firma Gillette ja jetzt ihren politischen Einfluss zur Rettung der Lage einsetzten, wie das die United Fruit Company einst in Honduras tat.
Es mag sein, dass einige der belgischen Streitparteien darauf setzen, dass die EU als einigendes Band eine Spaltung des Landes nicht zulassen wird. Wie wollte man auch mit Brüssel, der Hauptstadt Europas verfahren? Aufteilen? Dass man sich im Fritten- und Schokoladestaat demnächst auf eine funktionierende Bundesregierung wird verständigen können, ist doch eher unwahrscheinlich. Vermutlich wird es in den nächsten Monaten zu Neuwahlen kommen. Kann dann immer noch keine Koalition gebildet werden, wird es richtig brenzlig. Was aus dem König und Masseverwalter Albert II. wird, fragen sich dabei wohl nur wenige. Seine Legitimationsgrundlage scheint ihm eigentlich schon entzogen zu sein, denn sein formaler Titel lautet „König der Belgier“ und davon gibt es ja nicht mehr allzuviele...
Ein sehr schön geschriebener Artikel - ich hab mehrmals gelacht ;-)
AntwortenLöschenMeiner Meinung nach ist Belgien nicht mehr zu retten. Vielvölkergemeinschaften funktionieren auch nur in historisch gewachsenen Gebilden (vgl. USA) oder als freiwillig gegründete Staatenbunde (vgl. EU und NATO). Einen richtigen Nationalstaat mit mehreren Sprachen funktioniert wohl nur bei den Schweizern, die sind viel zu neutral um zu streiten.
Mein Vorschlag: deutschsprachige Gemeinschaft zu Deutschland, französichsprachige Gemeinschaft zu Frankreich, niederländischsprachige Gemeinschaft zu den Niederlanden... und aus dem zweisprachigen Brüssel wird Brüssel, District of Europe.
Amen.
Danke für's Kompliment. Meines Wissens nach wollen die separatistischen Flamen nur in absoluter Minderheit zu den Niederlanden und Mehrheitlich die Unabhängigkeit. Die Deutschsprachige Gemeinschaft will angeblich lieber nach Luxemburg (Klar, in Deutschland würden die keine Selbstverwaltung behalten. Ein 75.000 Leute Bundesland wird's nicht geben). Die Wallonen wollen auch nicht zu Frankreich, die werden ggf wohl den Rest allein verwalten. Es lebe das Selbstbestimmungsrecht der Völker ;-) Dass Brüssel quasi wie einst beim Saarlandplan zum Europagebiet werden könnte, halte ich für möglich. Aber Belgien lebt ja noch und Totgesagte leben ja bekanntlich länger.
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