Es gibt ein Land in Europa, das mit und von seinen Klischees lebt. Ein kleines Land: gebirgig, konservativ, neutral, zuweilen fremdengfeindlich. Die Schweiz.
Man kann viele Worte verlieren über dieses Land, dem die Volksdemokratie so wichtig ist, in dem aber erst seit 1990 in allen Kantonen Frauen wählen dürfen, diesen Vielvölkerkochtopf, in dem vier Sprachen gesprochen werden - darunter angeblich auch Deutsch. 720 Jahre ist die Eidgenossenschaft heute geworden, 6,67mal älter als Jopie Hesters. Die Schweizer sind ein Volk den Felsen gleich heißt es, das mag auch auf ihre Geisteshaltung zutreffen. Aber wofür stehen die Schweizer Werte heute noch und wie ähnlich ist die EU-Verweigerin eigentlich ihren Nachbarn?
Als gelernter Vorarlberger weiß man, dass die Schweiz dort anfängt, wo die Autobahnschilder grün, die Zebrastreifen gelb und die Kreisverkehrkunstwerke hässlich sind. Das sind Zeichen, die der Schweiz auch nach dem Beitritt zum Schengen-Raum noch bleiben werden, genauso wie ihre komischen Sackgassenschilder mit dem roten Balken, die Bahnhofsuhren, bei denen der Sekundenzeiger beim 12er immer stehen bleibt und die Tatsache, dass man bei Migros keinen Alkohol kaufen kann. Und so etwas ist den Schweizern wichtig. Behauptete man, dass der Satz „Gut Ding braucht Weile.“ auf die Schweiz zuträfe, wäre das eine glatte Untertreibung. Wenn ein Land nach der Gründung der UNO geschlagene 57 Jahre brauchte, um ihr beizutreten, kann man seine Politik wohl getrost als „vorsichtig“ bezeichnen.
Nun, die Schweiz unterscheidet sich nicht dadurch von anderen Ländern, dass sich mit Angst leicht Politik machen lässt, sondern dadurch, dass die Ängstlichen die Politik machen. Glaubt man wirklich, dass sich die Franzosen, Deutschen oder Österreicher weniger vor „den Fremden“ fürchten, als die Schweizer? Wohl kaum, aber sie stimmen nicht über Minarettverbote und Ausschaffungsinitiativen ab. Man kann das undemokratisch nennen, wahrscheinlich ist es das auch. Wenn man aber in Rechnung stellt, dass wohl ein Gutteil der Menschen auf diesem Planeten - meine Leser sind natürlich nicht gemeint - ziemlich dumm ist, möchte man sich schon fragen, ob man diesen Leuten politische Entscheidungen überlassen sollte. Repräsentative Demokratie hat den Vorteil, dass das Volk die Reiserichtung bestimmt, aber nicht das Transportmittel und die genaue Route. Das hat natürlich auch Nachteile. In der Schweiz können Parteien zwar auch mit populistischen Methoden auf Wählerfang gehen, dass sich ein Politiker á la Haider oder Strache aber zum Volkstribun erklärt, ist nur schwer möglich. Die vox populi spricht an der Urne und nicht im Berner Bundeshaus.
„Demokratiefanatische Hobbits“ seien die Schweizer, habe ich an dieser Stelle einmal behauptet. Nun, einerseits sind sie zwar stolz auf ihre Demokratie, andererseits lag die Wahlbeteiligung bei den Nationalratswahlen von 2007 jedoch bei nur 48,9%. Im Vergleich dazu gingen im repräsentativ-demokratischen Nachbarland Österreich bei den Parlamentswahlen im Jahr 2008 über 78,8% der Wahlberechtigten an die Urnen. Ist das ein positives Zeichen für das Demokratieverständnis eines Volkes, wenn weniger als die Hälfte der Stimmbürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen? Nun man kann den effektiven Erfolg eines politischen Systems nicht an der Wahlbeteiligung messen. Während so manche US-Amerikaner beinahe verbale Orgasmen bekommen, wenn sie von Freiheit und Demokratie sprechen, gaben bei den letzten Kongresswahlen 2010 lediglich 40,9% ihre Stimme ab. Rechte sind außerdem noch nicht alles, man muss sie auch wahrnehmen. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Schweiz in einer Studie der Universität Züchich von 2011 mit dem 14. Rang zwar noch sechs Plätze vor Österreich, aber immerhin hinter Belgien, den USA und Slowenien zu liegen kommt. Im „Democracy Index“ aus dem Jahr 2010 kam die Eidgenossenschaft zwar auf Platz acht, erhielt aber in den Bewertungskategorien „Wahlvorgang und Pluralismus“ sowie „politische Teilhabe“ die exakt gleiche Bewertung wie Österreich, das vor Deutschland auf Platz 13 zu liegen kam.
Aber Demokratie ist ja nicht alles. Die Schweizer leben davon sich einzigartig zu fühlen. Ob Rütlischwur, Freiheit, liberales Waffenrecht oder Rivella, man ist bemüht die Unterschiede aufrecht zu erhalten und zu leben. Der damalige Direktor des Zürcher Schauspielhauses, der Deutsche Mathias Hartmann, fragte etwa 2009 entnervt: „Warum müsst ihr euch ständig definieren?“ Es ist vermutlich ein nationaler Überlebensmechanismus, wenn ein Staat einerseits eine kulturell so heterogene Bevölkerung aufweist und andererseits dem übermächtigen medialen Mainstream gleich dreier gleichsprachiger Nachbarländer ausgesetzt ist. Ein Atom, um das so viele Elektronen kreisen, braucht einen starken Kern. Sollte es der Hang zur patriotischen Selbstfindung sein, der Hartmann zum Weggehen aus der Schweiz bewogen hat, dürfte er an seiner neuen Wirkungsstätte wohl kaum glücklicher werden: Mittlerweile ist er Direktor am Wiener Burgtheater.
Österreicher und Schweizer sind sich ohnehin viel ähnlicher, als das wechselseitig wahrgenommen wird. Die beiden Einleitungssätze zu diesem Beitrag hätten jedenfalls für beide Länder gelten können. Trotzdem befinden sie sich kaum im gegenseitigen Fokus. Die Blicke beider Völker schweifen eher nach Norden. Während man früher den Österreichern gerne Piefkehass unterstellte, hat das Verhältnis der Schweiz zu Deutschland zwischenzeitlich Abwehrkampfmentalität angenommen. Die Schweizer Boulevardzeitung Blick widmete der Frage „Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz?“ sogar eine eigene Serie und bewarb diese mit einem provokanten Werbespott:
„Genau unter diesem Motto beleuchtet eine BLICK-Serie eines der brennendsten Schweizer Themen dieser Tage: die Invasion aus dem grossen Kanton im Norden – billige Arbeitskräfte, arrogante Sprüche, unangenehmes Selbstbewusstsein?“
Die Probleme sind die selben wie in Österreich: Zuwanderer, die sich für die Kultur und Geschichte der Gastgeber oft nur mäßig interessieren kommen in ein Land mit veritablen Minderwertigkeitskomplexen. Das Schweizer Fernsehen bringt es auf den Punkt, wenn es meint, dass sich viele Deutsche beim Zuzug erwarteten nur wenige Unterschiede vorzufinden, „abr do hönd sich viele tosche“. Man ist sich als Österreicher und Schweizer zwar nicht unbedingt nah, teilt aber die Distanz zu den Deutschen, auch wenn die Schweizer ihnen offenbar andere Charakteristika - wie „schnelleres Denken“ und „mehr Humor“ (sic!) - zuschreiben, als die Österreicher das tun würden. Andererseits hat die Germanophobie in Helvetien mittlerweile Grenzen überschritten:
„die kugel für dich ist schon bereit [...] du dreckige deutsche“
Man täuscht sich also, wenn man glaubt die Schweiz sei ein Land, wo nur die Höflichkeit regiert. Irgendwie wundert es einen aber doch nicht, dass die Schweizer auf Unbehagliches mit Kugelhagel reagieren wollen. Im einzigen Land der Welt, das für seine Gesamtbevölkerung Bunkeranlagen vorweisen kann, spielt sich militärische Abwehr schon beinahe nicht mehr im Kopf, sondern zwischen der Doppelhelix ab. Den Schweizern ist das Reduit ist in Fleisch und Blut übergegangen. Einst bauten sie Kanonen und Stollen in die Alpen, heute schreiben sie Drohbriefe. Um die Deutschen von der Invasion abzuwehren scheint jedes Mittel recht zu sein. Hier spätestens bricht die Schweizerisch-österreichische Gemeinsamkeitsachse: Die Österreicher haben im Anlassfall doch lieber die Hände gehoben, als verspätetes Opfer lebt sich's eindeutig besser.
Die Schweiz ist eben kein Wunderland, wo der Käse von den Bäumen fällt und die Straßen mit Nazigold gepflastert sind. Nicht Mitglied der EU zu sein hat, trotz der vielen Rosinen, die sich die Eidgenossen gerne aus dem europäischen Kuchen picken, eben nicht nur gute Seiten. Die Schweiz kämpft zurzeit mit einem mörderisch hohen Frankenkurs. Lag das Wechselkursverhältnis der Schweizer Währung zum Euro in den Vergangenen Jahren im Durchschnitt bei etwa 1,5 Fr. :1 €, so ist der Franken zum heutigen Tag auf 1,12 € gestiegen. Für die eidgenössische Exportwirtschaft hat das ebenso schlimme Folgen, wie für den Handel. Dem laufen mittlerweile die Kunden massenhaft ins benachbarte Ausland davon, wo die Schweizer mitunter ihre Freundlichkeiten von den Deutschen retourniert bekommen:
„Samstagabends finde man kaum noch ein Plätzchen, um in Ruhe und ohne Grüezis ein Bier zu trinken, ärgern sich Einheimische.“ Spiegel
Dennoch ist die Schweizer Wirtschaft bisher noch nicht eingebrochen. Die Arbeitslosigkeit lag im Juni bei 2,8%, niedriger als in jedem EU-Land. Das liegt vielleicht nicht nur am Hochtechnologiesektor, den man nur schwer nach Bangladesch outsourcen kann, sondern möglicherweise auch an den geringen Lohnnebenkosten. Zugegeben: Die Gehälter in der Schweiz sind hoch, aber das sind auch die Lebenshaltungskosten. Daneben fallen aber für die Wirtschaft kaum Sozialabgaben an, zudem unterbieten sich die Kantone gegenseitig im innerschweizerischen Steuerwettbewerb. Der sei, so meinen manche Experten, schärfer als jener zwischen den EU-Staaten. Die Schweiz ist ein Niedrigsteuerparadies und der letzte Nichtsozialstaat Europas. Leistung ist, beinahe wie in den USA, ein übergeordnetes Prinzip und Transferzahlungen nur die Ausnahme. Kein Wunder, dass ein Land wirtschaftskonservativ ist, wenn die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) - die diese Linie am vehementesten Vertritt - seit 1848 ununterbrochen in der Regierung sitzt. Damit unterscheidet sich die Eidgenossenschaft wesentlich von ihren Nachbarstaaten, die mehr oder weniger dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft folgen.
Und eine weitere Eigenheit hebt die Eidgenossen im deutschsprachigen Raum hervor: Patriotismus ist ihnen wichtig. Während die Deutschen sich schon bei der Erwähnung ihres Landes schämen und beim landläufigen Österreicher das Nationalbewusstsein nur durchbricht, wenn er sich auf einen türkischen Reißnagel setzt, wird jedes Jahr am 1. August die halbe Schweiz in die Luft gejagt: Feuerwerke und Beflaggung an Privathäusern sind selbstverständlich. Schon Wochen vorher kann man bei Coop und Migros vom Pappteller bis zum Lampion alles kaufen, auf dem ein Schweizerkreuz Platz findet. Die Schweiz feiert sich als Willensnation und entgegen der Erwartung, die man vielleicht haben könnte, feiern die italo- und frankophonen Schweizer am heftigsten. Für 90% der sogenannten Romands ist der Nationalfeiertag „sehr wichtig“, in der Deutschschweiz liegt der Wert bei „nur“ 79%. In Österreich, wo die größte Feierlichkeit zum Nationalfeiertag immer noch in der Ausstellung von militärischem Gerät am Heldenplatz besteht, kann man sich da nur verwundert die Augen reiben.
Mittlerweile sind 720 Jahre vergangen, seit 1291 der Bundesbrief ausgestellt wurde. 625 Jahre ist es her, dass die Eidgenossen in der Schlacht von Sempach endgültig die Habsburger besiegten. Vor 663 Jahren schied die Schweiz aus dem Reichsverband aus. Seit 163 Jahren besteht der Bundesstaat. Die Schweizer haben in ihrer Geschichte etwas geleistet.
Es ist schwer zwischen Schokolade-, Käse-, Uhren- und Bankenstereotypen eine fassbare Schweiz zu finden, wahrscheinlich weil Staaten immer nur konstruierte Charaktere haben. Dass sich die Confoederatio Helvetica im siebenhundertzwanzigsten Jahr ihres Bestehens immer noch selbst sucht, verwundert bei vier Sprachen und 26 Kantonen wenig. Im dem Land wo die Leute Ueli, Hansheiri, Pirmin, Urs, Ruedi und Hansruedi oder Remo heißen, ist jeder Schweizer eine Schweiz für sich. Was einen eigentlich wundert, ist, dass die Schweiz noch immer funktioniert. Trotz Vielsprachigkeit, trotz religiöser Heterogenität, trotz Föderalismus. Oder gerade deswegen?
„In Deutschland ist alles verboten was nicht ausdrücklich erlaubt ist. In der Schweiz ist es umgekehrt. Und in Österreich ist alles erlaubt, was ausdrücklich verboten ist.“ Andreas Khol
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