Samstag, 29. September 2012

Die Reise nach Leobersdorf, oder: schlechtes Karma

Glauben sie an Karma? Ich eigentlich auch nicht. Aber die Theorie, dass schlechten Leuten Schlechtes passiert, wenn sie Schlechtes tun, hat schon ihren Reiz. Mir jedenfalls passiert selten was Gutes. Das Ganze scheint - frei nach der homöopathischen Einsicht: Wenn's bei mir wirkt, wirkt's bei allen - also durchaus plausibel. Zum Beispiel habe ich es Zwei Jahre lang, zum Teil mit Begründung, zu Teil aus Bequemlichkeit, verabsäumt eine Publikation fertig zu redigieren. Mein Gewissen, sogar das ist bei mir schlecht, hat zwar zeitweise gedrückt, aber am Ende siegt ja meistens die Faulheit. Irgendwann hab ich es dann doch noch zusammengebracht, zur Freude des guten Oberverantwortlichen T. - er legt sehr viel Wert auf Privatsphäre - die Postille zu finalisieren. Dem lieben Paul, der für ebendiese Mitverantwortung trug, konnte ich die Erfüllung seines Solls nur unter Androhung von Zwangsgewalt abringen. Nach mühevoller Formatierungs- und Layoutarbeit war das 182-Seiten-Heftchen endlich - so glaubte ich damals - fertig. Aber es war bereits zu spät: Mein Karma war scheinbar schon zu weit ins Minus gerutscht.

Daher erscheint es auch nur gut und billig, dass mich am Freitag nach der Arbeit der unerwartete Ruf des guten T. ereilte, der mich mit dringendem Auftrag nach Leobersdorf entsandte. Dort wurde besagtes Heftel, dessen Vollendung ich solange prokrastiniert hatte, nämlich gedruckt. Abholzeiten bis 22:00 Uhr, juhu... An dieser Stelle möchte ich Ihnen liebe Leser völlig uneigennützig die Firma digitaldruck.at ans Herz legen. Sie arbeitet preisgünstig, korrekt, höflich und die Qualität stimmt auch. Ihr einziges Manko ist Leobersdorf. Wer mit dem Zug von Wien Meidling aus eine halbe Stunde nach Süden fährt, kann diesen feuchten Traum von großstadtflüchtigen Speckgürtelspießigern besichtigen. Sein trüber Anblick um halb acht Uhr abends erzeugte in mir ein Bild von Wien als Banane und Niederösterreich als pestizidverseuchter Schale. Leobersorf wäre dann dort, wo die Schale  braune Flecken hat. Das Wappen der Gemeinde zieren eine Kirche und Vögel, die wegfliegen. Wer dort war kann sie verstehen. In der Tat möchte man meinen, dieses besiedelte Stück Einöde könnte in Sachen depressiver Trostlosigkeit gut und gern mit St. Pölten konkurrieren, aber wir wollen Leobersdorf nicht zu viel Unrecht antun.

Die Sonne ging schon im Westen unter, als mich ein warmes Gefühl von Dankbarkeit beschlich, in Vorarlberg aufgewachsen sein zu dürfen. Dessen weltmännischer Charme verhält sich zu jenem von Leobersdorf in etwa so wie die Qualität der New York Times zu jener der Kronen Zeitung. Mein Versuch über mein Handy vernünftigen Radioempfang zu erhalten schlug fehl. Während bis auf Radio NÖ die ORF-Sender zum Teil massiv rauschten,  übertrugen „Radio Maria“ und „Kronehit“ tadellos. Mittlerweile empfand ich meinen Aufenthalt in diesem Tschernobyl der Kulturlosigkeit als Strafe Gottes.

Weil ich mir grundsätzlich schwer tue, Kartenmaßstäbe geistig in die Wirklichkeit umzulegen, hielt ich es für eine gute Idee, den Hinweg zu besagter Druckerei vom Bahnhof aus zu Fuß anzutreten. (An diesem Punkt der gute Rat: Falls Sie jemals dort was drucken lassen, fahren sie mit dem Auto hin.) An der langen Straße, aus der Leobersdorf scheinbar hauptsächlich besteht, gab's zunächst ein paar Wirts- und Wohnhäuser, dann einen Billa, dann eine Tankstelle, einen Hofer, dann ein Pferdefuttermittelfachgeschäft, dann eine Wiese, die Ortstafel (Leobersdorf), die Südautobahn samt Unterführung, ein Gartencenter, eine aufgelassene Tankstelle, noch eine Wiese (diesmal zu verpachten) und schließlich ein Shopping Center. Dort gibt es einen Interspar und einen MC Donald's. Danach hört der Gehsteig auf. Man muss nach links die Europastraße entlang, an der außer ihrer Geoposition überhaupt nichts europäisch ist, über einen Bach, an Hagebuttenhecken vorbei durch eine Wiese über einen Parkplatz und schon ist man - nach etwa drei Kilometern - da.

„Wo homses Auto denn higstöt?“ wollte der Druckereibedienstete von mir wissen. Meine Antwort irritierte ihn sichtlich. Mein Schock über das Ausmaß der georderten Druckereierzeugnisse saß ebenso tief. Fünf Kisten, jede wohl um die sieben Kilo schwer. Die am Bahnhof wohlweislich von einer Autotür notierte Taxinummer existierte offenbar nicht. Ein Anruf bei der Buchentwicklungszentrale des guten T. in Wien bescherte mir nach einer viertel Stunde dann doch die Dienste eines lizensierten Personentransportunternehmers. „Da mussu awer nacher gucken, dasse die Kisten innen Such krichst.“ Was denn einen Deutschen in die niederösterreichische Pampa verschlagen habe, wollte ich wissen. „Suerst meine Aweit und dann hat mich mein Priwatlewen hierjehalten.“ Außerdem gebe es, auch in Deutschland, sehr wohl schlimmere Orte. Ja, so log ich, ich könne mir gut vorstellen, dass es in Mecklenburg-Vorpommern öder zugehe. Während der restlichen Fahrt stellte der preußische Provinztaxler den Grad seiner Verösterreicherung unter Beweis, indem er mir die durchschnittliche Anzahl an „ausgesteckten“ Buschenschanken in dem 1.000-Seelendorf, in dem er wohnt, aufzählte. So bis zu 15 können es schon sein. Wobei man meiner Meinung nach mit Verurteilungen der lokalen Trinksucht vorsichtig sein sollte. Alkoholismus darf man in dieser Gegend niemandem ernstlich vorwerfen.

Mit meinen fünf Kisten, die zusammen mehr als die Hälfte von mir wogen, stellte er mich am Bahnhof ab. Rechnung: sechs Euro. Mir fällt es jetzt noch schwer, mir einen Ort vorzustellen, selbst wenn er in Deutschland liegt, der so trostlos ist, dass man ihn verlässt, um in Leobersdorf Sechs-Euro-Fuhren zu fahren. Er bekam, entgegen meiner Gewohnheit Tauben und Deutsche nicht zu füttern, zwei Euro Trinkgeld. Ich schleppte jeweils zwei Kartons und dann den letzten in die Bahnhofsvorhalle und dann weiter auf Bahnsteig drei, von wo der nächste Zug nach Wien abfahren sollte. Beim Tragen ließ ich den Rest jeweils unbeaufsichtigt. Meine Angst, dass jemand in Leobersdorf kiloweise wissenschaftliche Literatur stehlen könnte, hielt sich in sehr engen Grenzen. Im Allgemeinen geht man dort vermutlich solchen Alphabetisierungsgefahren eher aus dem Weg. Ein kurzer Hoffnungsschimmer, in meiner Not Hilfe zu erlangen, zerstob sehr schnell wieder. Die zwei Mormonen, die in der Bahnhofshalle die Zugpläne studierten, fuhren leider noch weiter nach Süden. Ich hätte mich für vier helfende Hände vielleicht sogar überzeugen lassen, dass vor fast 200 Jahren einem Ami Namens Joseph Smith der Engel Moroni erschienen ist. Ob man wohl in Utah im Winter heiße Moroni verkauft? Jedenfalls empfand ich Mitleid und Anerkennung für die Tapferkeit der beiden Bekehrer, noch tiefer in das unerforschte Niederösterreich vorzudringen. Albert Schweitzer hatte es sicher nicht leichter.

Währenddessen sprang auf meinem Bahnsteig ein dicklicher Migrant vor dem Süßigkeitenautomaten auf und ab und las dabei seiner Freundin am Handy das gesamte Sortiment vor. Gleichzeitig belästigte eine aufdringliche ältere Dame eine türkische Mutter und deren Tochter mit ihrer massiv zur Schau gestellten Toleranz. Schließlich packte sie sogar ihre Familienfotos aus „Das bin ich und das ist meine Mama und das meine Schwester.“ Verständnislose Blicke. „MAMA! S-C-H-W-E-S-T-E-R!“ bei den Bedrängten machte es immer noch nicht klick. „S-I-S-T-E-R“ versuchte die Greisin es dann mit Englisch. „Und des is a Klavier.... P-I-A-N-O!“ „Ah Piano!“ sagte die Türkin, die sich mittlerweile vor lauter Nervosität einen Tschick angesteckt hatte. Am Bahnsteig visavis begannen die beiden Mormonen zu beten. Auch das kann man in Niederösterreich keinem vorwerfen, vor allem dann nicht, wenn einem seine Religion den Genuss von Alkohol verbietet, oder wenn man von lästigen antiquierten Schaßtrommeln Familienfotos aus dem Dritten Reich vorgeführt bekommt.

Schließlich bat ich die penetrante alte Integrationswuchtel mir die Zugtüre offen zu halten, damit ich die fünf Schachteln hineintragen konnte, ohne dass die Hälfte davon allein nach Wien fuhr. Die Türkin nützte die Gelegenheit, um mit ihrem Kind in den vorderen Zugteil zu flüchten. „Jo, de Tia aufhoitn konn i eana scho, oba trogn nix, i hob an Bandscheibnvuafoi!“ Ich dankte herzlich, die Türe aufzuhalten genüge völlig. „Jo, oba hebn konn i nix!“ Ich trug zuerst zwei, dann drei Schachteln in den Zug. Mein menschlicher Türstopper unterstütze mich trotz Discusprolaps zumindest moralisch: „Nana, hetztns eana ned so!“

Erschöpft sank ich in einen Sitz und hatte dabei immer ein Auge auf die Kisten. Einige Stationen später stiegen zwei alkoholisierte Heurigenbesucher ein, die mich mit ihren tiefsinnigen Dialogen erfreuten, wobei der eine offenbar versuchte, den anderen anzupumpen. „I hob no nia wem a Göid gschuidet.“ „Oiso nix fia unguat, owa du host no nia am a Göid schuidt?“ Schließlich kam die Unterhaltung auf die allgemeinen Lebenserfahrungen der Zechbrüder: „I hob nein Joah mit drei Gegenfrauen vaton.“ „Na hea auf, i hob a vü zuvüle gheirot.“ „Jetzt host owa a brave Frau.“ „Na, ka brave, a nurmale.“ Ich bemerkte erst später, dass die so Beschriebene minutenlang still dabeigestanden hatte.

Am Bahnhof holte mich schließlich der gute T. um kurz vor halb neun ab und half mir aufopfernd beim tragen. Auf dem Weg zur Straßenbahn versagten bei mir jedoch schon mehrmals die Kräfte. Mit ziehen und schleppen schafften wir es bis ins Büro. Das Werk war vollbracht. 

Wenn Sie jetzt aber glauben, das Karma hätte seine Rechnung mit mir beglichen, so täuschen Sie sich. Auf dem Heimweg verkaufte mir der Würstelstandler an der Friedensbrücke eine Käsekrainer statt einer Bratwurst und die Ersatzpommes vom Mäci waren im Gegenzug kalt und ungesalzen. Ich muss ein wirklich schlechter Mensch sein.

2 Kommentare:

  1. Ich war auch in Leobersdorf um ein gewisses Druckwerk abzuholen, also kann ich deine Qualen durchaus nachvollziehen ;)

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  2. Lieber Moesanthrop, als sehr interessierter Leser deiner Zeilen würde ich dich sehr gerne um Kontaktaufnahme bitten: daniel(punkt)szinovatz(at)leobersdorf(punkt)at. Vielen Dank!

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