Montag, 31. Oktober 2011

Sieben Milliarden, oder: die Menschheit in Zahlen

In meiner Heimatstadt leben etwa 0,00044% der Weltbevölkerung, in Österreich sind es immerhin 0,12%. Und das sind noch gigantische Zahlen für jemanden, der geschätzt 0,000000014% der Menschheit ausmacht, die übrigens etwa 485 Millionen Tonnen wiegen dürfte, was der Masse von ca. 2,4 Millionen ausgewachsenen Blauwalen entspräche, wenn es von denen mehr als die geschätzten 10.000 gäbe.

UNO-Vertreter haben gestern Nacht symbolisch den siebenmilliardensten Menschen in einem Krankenhaus in Manila begrüßt. Damit gehört die neugeborene Danica Camacho zu den ca. 32% der Weltbevölkerung, die in Entwicklungsländern und den 55,4% die in Asien leben sowie wahrscheinlich auch zu den 16,9% der Menschheit, die katholisch sind. Sie hat Glück, dass sie geboren wurde, denn die Kindersterblichkeit bei Mädchen ist auf den Philippinen fünfmal so hoch wie in Österreich. Nach der aktuellen Lebenserwartung für weibliche philippinische Staatsbürger wird sie 74,74 Jahre alt werden und somit 2085 sterben, als Österreicherin wäre sie acht Jahre älter geworden. Damit ist die Lebenserwartung in beiden Staaten zwar nicht so niedrig wie in Angola (38,76 Jahre), aber auch lange nicht so hoch wie in Monaco (89,73 Jahre). Vermutlich wird sie aber nicht zu den Menschen gehören, von denen laut UNICEF alle 3,6 Sekunden einer an Hunger stirbt, vielleicht aber doch zu den 300 Millionen Kindern, die jeden Abend hungrig ins Bett gehen.

Dass die Philippinen das zwölft bevölkerungsreichste Land der Erde sind, wird dabei ebenso gern vergessen, wie der Bevölkerungsreichtum anderer weniger bekannter Entwicklungsländer (Pakistan - Platz 6, Bangladesch - Platz 7). Alleine Karachi hat fünf Millionen Einwohner mehr als Österreich. In Indien werden 1.652 von weltweit geschätzten 3.000 bis 6.000 Sprachen gesprochen. Jeder siebte Mensch ist ein Chinesischer Bauer.
„There are nine million bicycles in Beijing“ - Katie Melua
Der Datenschatz über die Menschheit scheint endlos: 39,8 Millionen sind blind und 70 Millionen gehörlos. Die dicksten Menschen leben auf Amerikanisch-Samoa. Die Pressefreiheit ist in Eritrea am niedrigsten. Etwa 800 Millionen Menschen haben ein Facebook-Profil, aber fünf Milliarden haben keinen Zugang zum Internet. Etwa eine Milliarde Menschen leben vegetarisch. Das niedrigste BIP pro Kopf teilen sich Burundi und die Demokratische Republik Kongo mit 300 US-$. Das niedrigste BIP-Wachstum hat San Marino, das 2009 mit einer 13%igen Rezession kämpfen musste. 90% der Weltbevölkerung haben braune Augen und etwa 1% ist blond. Jährlich werden weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel entsorgt, aber eine Milliarde Menschen hungert. Auf acht bis neun Menschen kommt ein PKW und 0,48% der Weltbevölkerung ist mit HIV infiziert. Mit dem Kosovo haben 29 Staaten ein weibliches Staatsoberhaupt, in 16 davon regiert Elizabeth II.. 27 Millionen Menschen leben in Sklaverei. Etwa 1,1% aller Schwangerschaften enden in der Geburt von Zwillingen, bei den Yoruba in Afrika sind es 4,5%. Jährlich werden laut UNICEF eine halbe Milliarde Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Die zwanzig höchsten Gebäude der Erde aneinandergereiht wären höher als der Mount Everest.
„Es ist leichter, die Menschheit als einen Menschen zu kennen.“ - François de La Rochefoucauld
 Es gibt 194 international anerkannte Staaten, aber nur 26 davon sind voll entwickelte Demokratien. Jährlich werden um die zehn Menschen von Haien getötet und etwa 1.000 vom Blitz erschlagen. 38% aller Menschen haben die Blutgruppe 0-positiv, aber nur 30% der Österreicher. Weltweit gibt es über 300 Städte mit mehr als einer Million Einwohner. Aufgrund von Fehlbildungen und Amputationen gibt es etwas weniger als 70 Milliarden Zehen auf der Welt. Die UNO schätzt, dass täglich 2,5 Millionen Tonnen Schmutz- und Abwässer in Flüsse und Seen geleitet werden. Die höchsten Militärausgaben hat der Oman, die niedrigsten Island. Täglich werden auf YouTube etwa 65.000 Videos hochgeladen. Man müsste sechs bis acht Jahre am Stück vor dem Computer sitzen, um sie alle anzusehen. 1,2 Milliarden Menschen sind Raucher, aber nur 7,4% der Menschheit lebt in Staaten mit effektivem gesetzlichem Nichtraucherschutz. Die Menschheit hält sich schätzungsweise eine Milliarde Schweine, 1,3 Milliarden Rinder, 13,5 Milliarden Hühner sowie 1,8 Milliarden Schafe und Ziegen. 250 bis 300 Menschen sprechen Cornish, etwa 80 Millionen Swahili. 44 Staaten sind Monarchien, in 55 herrschen autoritäre Regime. 0,012% aller Neugeborenen sind Bluter und 0,1% haben einen Klumpfuß. Insgesamt neun Länder geben zu im Besitz von Atomwaffen zu sein. 1,2 Millionen Menschen werden jährlich Opfer von Menschenhandel. Laut Demokratieindex 2010 ist Norwegen das demokratischste Land mit 9,8 von 10 Punkten, während Nordkorea mit 1,08 am Schluss steht. 40 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Im Jahr 2009 erlagen etwa 18.500 Menschen der Schweinegrippe, etwa eine Million beging Selbstmord und 15 Millionen Kinder starben an Wassermangel. Zahlen machen alles so relativ.
„Die Menschheit ist die Unsterblichkeit der sterblichen Menschen.“ - Ludwig Börne

Dienstag, 25. Oktober 2011

Die Verspätete, oder: Eine kurze Geschichte der österreichischen Nation

„Marke Österreich“ - © Österr. Post AG
Jörg Haider nannte sie eine „ideologische Missgeburt“, Taras Borodajkewycz einen „blutleeren Literaturhumunkulus“ und für Otto Bauer war sie „ein aus Katholizismus, Habsburger-Tradition und feudaler Barockkultur zusammengebrauter Spuk.“ Die österreichische Nation ist ein von allen Seiten geschlagenes Kind, verhasst, verfemt, verspottet und trotzdem immer noch am Leben.

Als nach dem Untergang der österreichischen Monarchie die Umbenennung der ehemaligen „Hofbibliothek“ in „Nationalbibliothek“ anstand, wandten sich einige Beamte des Hauses an den damaligen Direktor Josef Donabaum, mit dem Hinweis, „daß eine ,österreichische Nation' nicht existiere, ja daß dieser Name sogar den künftigen Anschluß an Deutschland hemmen könnte“. Der höchste Bibliothekar der Republik vermochte ihre Ängste jedoch zu zerstreuen: 
„Daß keine besondere österreichische Nation existiert, darf ja wohl als weltbekannt angenommen werden.“ - Josef Donabaum
Für die erste Nachkriegsgeneration war die Lage klar: Österreich-Ungarn war untergegangen und mit ihm 90% des Staatsgebietes sowie 99% des weltweiten Ansehens. Der alte Kaiser war tot, der neue vertrieben, ihr Haus bedeutungslos. Die junge Republik war vom Namen bis zum Territorium ein alliiertes Konstrukt, zur bloßen Schwächung Deutschlands geschaffen. Man schrieb deutsch - vom Sprechen kann bei den meisten heute noch nicht geredet werden - also war man deutsch, Punkt. Schon in Art. 2 des „Gesetz[es] über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“ hieß es: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“ Ein Gesetz, das nie Geltung entfaltete. Unter den politischen Lagern der Ersten Republik, die sich sonst bei jeder Gelegenheit das Messer an die Kehle setzten, herrschte wahrscheinlich nur über dieses eine Thema Einigkeit: Österreich sollte der Weimarer Republik angeschlossen werden. Es ist auch in der Zweiten Republik nie der Versuch unternommen worden, den Zeitraum von 1918 bis 1934 im Sinne irgendeiner versuchten ideologischen Verselbständigung Österreichs zu interpretieren, es widerspräche ganz einfach den Tatsachen. Selbst der als Vater der österreichischen Verfassung von 1920 bezeichnete Hans Kelsen, ein ansonsten prosaischer Positivist, schrieb im Schlusswort zu seinem Buch „Österreichisches Staatsrecht“:
„Dennoch: [...] stärker als der aller Vernunft und Sittlichkeit hohnsprechende Verlauf der jüngsten Geschichte, deren Produkt das heutige Österreich ist, stärker als Österreich selbst ist sein Wunsch: aufzugehen im deutschen Vaterland.“ - Hans Kelsen
Ein Gutteil derjenigen, die wir heute als große Österreicher feiern, war vor allem eines: deutschnational. Lediglich kleine, vor allem monarchistische und kommunistische Gruppen konnten sich mit dem Gedanken an eine österreichische Nation anfreunden. Zwei wichtige Exponenten der österreichischen Nationalbewegung, wenn man den bunten Haufen denn so nennen möchte, waren Ernst Karl Winter und Alfred Klahr. Letzterer veröffentlichte 1937 einen Artikel „Zur nationalen Frage in Österreich“ in dem er zwar die nationale Eigenständigkeit Österreichs postulierte, das aber von einigen auch als stalinistisches Auftragswerk kritisiert wird. Letztendlich war Klahrs Motivation durchwegs politischer Natur:
„Heute ist der großdeutsche Gedanke reaktionär, heute sind die deutschnationalen Bewegungen nur Vorposten des Hitlerfaschismus, des Hauptfeindes des internationalen Proletariats, der internationalen Demokratie überhaupt. Daher müssen sie bekämpft, der Anschluss an Deutschland überall abgelehnt werden.“ - Alfred Klahr
Immerhin war schon der Gedanke an eine österreichische Nation für viele Gefahr genug. Nach der Machtergreifung Hitlers wurden die diplomatischen Vertretungen des Deutschen Reiches angewiesen in Zukunft nicht mehr von Österreichern, sondern dem „deutschen Volk in Österreich“ zu sprechen.  Die meisten Christlichsozialen hatten in ihrer diktatorischen Versuchsanstalt namens Ständestaat jedoch nie ein ernsthaftes Interesse an der Entwicklung eines österreichischen Nationalbewusstseins, nachdem sie 1934 die demokratische Verfassungsordnung gestürzt hatten. Als faschistoide Antipode zu Hitlers Diktatur wollten sie Österreich vielmehr als den „besseren deutschen Staat“ positionieren, ein Versuch der letztlich gründlich in die Hose ging.
Als beim Einmarsch der Wehrmacht am 12. März 1938 die ohnehin nur bei wenigen vorhandene Hoffnung auf eine andauernde österreichische Eigenständigkeit von deutschen Marschstiefeln zertreten wurde, gab auch die Regierung Schuschnigg w.o.. Er wolle, so der Bundeskanzler, „kein deutsches Blut vergießen.“ Unter der Nazi-Besatzung war an austriakische Eigenständigkeit gar nicht zu denken, auch wenn es jemand gewollt hätte. Nur zwei Institutionen durften den Landesnamen weiterführen, die „Österreichische Sparkasse“ und der „Österreichische Bundesverlag“. Was die frühe Idee einer österreichischen Nation betraf, so widerfuhr ihr das, wovor der spätere britische Premier Clement Attlee wenig später die Franzosen warnen sollte:
„Die Deutschen töten nicht bloß Menschen, sondern auch Ideen.“ - Clement Attlee
Auch wenn es im österreichischen Fall vielleicht eher Beihilfe zum Selbstmord war, die Nationsidee feierte ihre tatsächliche Auferstehung erst nach Kriegsende. Es wäre aber gelogen zu behaupten, dass dies eine bloße Folge der Moskauer Deklaration von 1943 gewesen seien, in der die Alliierten die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs beschlossen hatten. Vielleicht wäre es typisch österreichisch, aber es war nicht so und das ist einer der wenigen angenehmen Fakten in der so wechselvollen Geschichte dieses Nationskonstrukts. Als Wendedatum für die innere Einstellung der antinazistischen österreichischen Elite, die Großteils in Konzentrationslagern, Gefängnissen oder bestenfalls in Gauverbannung den Krieg überdauerte, wird häufig das Jahr 1942 genannt. Es war auch das Jahr, in dem sich ein gewisser Stimmungswandel in der Bevölkerung abzeichnete, nachdem der Vormarsch der erfolgsverwöhnten deutschen Wehrmacht und ihres völkermordenden Trosses vor Stalingrad ins Stocken geraten war.
Als die Niederlage absehbar wurde und die deutschen Sozialdemokraten  im Frühsommer 1943 bei ihren österreichischen Gesinnungsfreunden im Untergrund vorfühlten, wie denn die großdeutsche Lösung nach Hitler beizubehalten wäre, bekamen sie von Adolf Schärf, dem späteren Bundespräsidenten, zur Antwort:
„Der Anschluss ist tot. Die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden.“ - Adolf Schärf
Die Konservativen in Person von Lois Weinberger hatten schon ein Jahr zuvor Besuch von deutscher Seite erhalten und deren Ansinnen auf Beibehaltung des Anschlusses ebenso abgelehnt, wie die Sozialdemokraten. Als die Alliierten dann im Oktober desselben Jahres die Wiedererrichtung Österreichs beschlossen, taten sie dies nicht gegen den Willen der zukünftigen österreichischen Staatsführung.

Für die darauf folgende positive Entwicklung der österreichischen Identität in Richtung Eigenständigkeit können letztlich vor allem zwei Katalysatoren ausgemacht werden: der Krieg und der erfolgreiche Wiederaufbau. Wäre Hitler mit seiner Entourage nicht in die Feuer der Hölle hinab-, sondern siegreich in Moskau eingefahren, die politisch knetbare Masse der Österreicher wäre wohl geistig im Deutschtum hängen geblieben. Andererseits hätte sich ohne die positive Nachkriegsgeschichte nie ein Vertrauens- und damit Identifikationsverhältnis der Bevölkerung zu ihrem Staat, dem man in der Ersten Republik noch den Beinahmen „den keiner wollte“ verpasst hatte, entwickelt. Doch aller Anfang ist schwer und schließlich gaben erst zu Beginn der 60er bei Umfragen mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie Österreich für eine eigenständige Nation ansähen. Der Wert nahm in der Folge jedoch stetig zu und liegt heute bei um die 90%. Der Anteil der deklarierten Deutschnationalen sank derweil auf unter 5%.

Mit dem österreichischen Nation Building taten sich die Konservativen am leichtesten. Ihr Bekenntnis zum Österreichertum ging so weit, dass Unterrichtsminister Hurdes den Lehrgegenstand „Deutsch“ in „Unterrichtssprache“ umbenennen ließ. Das Österreichische Deutsch wurde in der Folge vor allem von rechter Seite als „Hurdestianisch“ verunglimpft. Bereits in seiner Regierungsansprache vor dem Nationalrat vom 21. Dezember 1945 erklärte der frisch ernannte erste Bundeskanzler der Zweiten Republik:
„Wenn wir immer wieder mit allem Fanatismus heimatverwurzelter Treue zu uns selbst betonen, daß wir kein zweiter deutscher Staat sind, daß wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren noch werden wollen, sondern daß wir nichts anderes sind als Österreicher, dies aber aus ganzem Herzen und jener Leidenschaft, die jedem Bekenntnis zu seiner Nation innewohnen muß, dann ist dies, keine Erfindung von uns, die wir heute die Verantwortung für diesen Staat tragen, sondern die tiefste Erkenntnis aller Menschen, wo immer sie auch stehen mögen.“ - Leopold Figl
Am schwersten mit dem österreichischen Nationalbewusstsein taten sich - abgesehen von den Deutschnationalen natürlich - die Sozialdemokraten. Friedrich Adler, der Sohn Viktor Adlers, wollte von seiner deutschnationalen Einstellung keine Abstriche machen. Er kritisierte die seiner Meinung nach „ebenso reaktionäre wie widerliche Utopie einer österreichischen Nation“ und musste daher nach '45 im Schweizer Exil bleiben. Der politische Dehnungskünstler Karl Renner hingegen, der noch 1938 den Anschluss begrüßt hatte, machte 1946 eine ideologische Kehrtwende:
„Der Österreicher ist im strengen Wortsinn kein deutscher Stamm. Seine Eigenart unterscheidet ihn von allen deutschen Stämmen [… unser Volk besitzt so eine ausgeprägte und von allen anderen verschiedene Individualität, dass es die Eignung und auch den Anspruch dazu hat, sich zu einer selbständigen Nation zu erklären.“ - Karl Renner
Die eigentliche Krux der österreichischen Nationswerdung ist, dass nach wie vor viele am Herder'schen Modell der Sprach- manche sogar der Blutsverbundenheit festhielten. Eine deutsche, französische oder russische Nation genetisch zu belegen ist ebenso unmöglich, wie eine österreichische aufgrund der Tatsache zu leugnen, dass sie sich mit drei Nachbarstaaten die Grundsätze der Sprache teilt. Nach dieser Vorstellung müssten Kroaten Serben, US-Amerikaner Engländer und Brasilianer Portugiesen sein. Man kann nicht mit altem Mörtel neue Häuser bauen: Ein Österreichbewusstsein, dass auf Blut- und Bodenideologien basiert wäre genauso widerwärtig wie jedes andere.
„Österreich kommt immer eine Stunde, eine Schlacht und eine Idee zu spät.“ - Napoleon
Hatte die Linke nach '45 noch Probleme sich vom Deutschnationalismus zu lösen - eine Katharsis, die die FPÖ bis dato nicht vollbracht hat - ist sie heute in Teilen aus internationalistischen Gründen antiösterreichisch. Gruppierungen, die Aktionen wie den „Antinationalfeiertag“ oder „Still not loving Austria“ betreiben stürzen sich vor lauter Inklusionssucht in einen dekonstruktivistischen Hassdiskurs, in dem sie alles Übel dieser Welt auf ihre Nation schieben. Eine bloße Konstruktion sei diese, so sagen sie, und damit haben sie auch völlig Recht. Nur, Konstruktionen sind auch der Internationalismus und die Menschenwürde. Die österreichische Nation als postfaschistisches Entlastungssyndrom zu verkaufen, das einige nutzen um ihren Fremdenhass zu kaschieren, ist nichts anderes als die Steinigung eines ideologischen Sündenbockes. Da wird dann auch gern nach ganz harten Parolen gegrapscht:
 „Die Idee der Nation bleibt immer scheiße.“ - antinationalfeiertag.wordpress.com
Anstatt, dass man versucht die österreichische Nation als ein inklusives Modell von Zusammengehörigkeit zu bewerten und dieses gegen den rechten Rand zu verteidigen, wird dümmlich darauf herumgehackt, als könnte man den eigenen Frust auf ein stagnierendes Staatswesen damit abbauen. In Wirklichkeit greifen die Möchtegernweltverbesserer jedoch selbst auf das Konzept zurück, wenn sie in Verübung diverser Ruhestörungsdelikte „Volxküchen“ errichten. Das „x“ alleine macht noch keine Revolution und trotz manischer Abgrenzung zu allem was auch nur ansatzweise nach Ancien Régime riechen könnte, wird mit der Begriffsverwendung ein kollektivistischer Ansatz implementiert. Zu blöd nur, dass man Nation nicht mit „x“ schreiben kann.

Man könnte sich über die österreichische Identität auf hunderten Seiten auslassen: Über das Verhältnis zu Deutschland, das stetig zwischen Emanzipation, Anbiederung und Minderwertigkeitskomplex schwankt, den Lokalpatriotismus in den Bundesländern oder die Tatsache, dass die FPÖ mit rot-weiß-roten Fahnen Werbung macht und trotzdem deutschnational bleibt. Ausstellungen gab es zum Thema - sogar in Deutschland („Verfreundete Nachbarn“) - und Sachbücher wurden in Massen aufgelegt („Der Kampf um die österreichische Identität“, „Ist Österreich ein Deutsches Land?“ etc.). Otto Bauer und sein schnulziges Nationskonzept sind unerwähnt geblieben („die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen“) ebenso - schon beinahe schändlich in diesem Zusammenhang - der große Apologet des Österreichertums Friedrich Heer.
Literatur könnte man aufzählen noch und nöcher, in denen sich sowohl Basis als auch Spitze des österreichischen Schriftstellertums das Identitätsproblem ihres Landes, das auch ihr Identitätsproblem war und ist, von der Seele schrieben: von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über Roths „Radetzkymarsch“ bis hin zu Bernhards „Heldenplatz“. Jelinek, Artmann, Doderer, Jandl, keiner konnte am erdrückenden Koloss seiner Herkunft vorbei, den viele von ihnen als Stein um den Hals empfanden. Österreich ist grundsätzlich ein Land, in dem es nie genug Psychiater wird geben können.
 „Das Fette, an dem ich würge: Österreich.“ - Peter Handke
Mittlerweile wird an den Schulen zwar wieder Deutsch unterrichtet, wenn auch mit mäßigem Erfolg, es gibt aber ein „Österreichisches Wörterbuch“. Die „Deutsche Volksoper“ heißt jetzt „Volksoper“ und die „Nationalbibliothek“ „Österreichische Nationalbibliothek“. Ob deren heutiger Selbstbeschreibung würde ihre ehemalige deutschnationale Belegschaft aber wohl im Grabe rotieren:
 „Erst nach 1945 also konnte die Österreichische Nationalbibliothek  im Einklang mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Landes zu einem identitätsstiftenden Symbol der Österreichischen Nation werden.“ - ÖNB
Schlussendlich kann man über die österreichische Identität vor allem das sagen: Sie ist angenehm diffus und unaufdringlich sowie insgesamt viel zu widersprüchlich, schwammig und nebulös als dass irgendetwas an ihr deutsch sein könnte. Österreich sucht noch immer nach sich selbst und wird wohl auch nie damit aufhören einen nationalen Intensivdiskurs um die Intensität der Nation zu führen.
Die Post hat kürzlich nach einem Wettbewerb eine Marke zur „Visualisierung der österreichischen Identität“ herausgegeben. Sie zeigt ein Fernrohr, das auf wolkenverhangene Berge blickt. In welche Richtung genau? Wahrscheinlich zurück.


„Doch bange machen gilt nicht bei einer Nation, die zu allem, was ihr mißlingt, auch das Pech hat, nicht untergehen zu können.“ - Karl Kraus

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Die Steiermark, oder: das grüne Bpoundtesloundt

Wir setzten unsere kulturanthropologische Bundesländertour nach Vorarlberg, Tirol und dem Burgenland mit den Steirern fort. Rückblickend sei der aufgekommenen Kritik an gewissen Burgenländer-Stereotypen mit Daten der österreichischen Verkehrsstatistik begegnet, die Vorarlberg im Ländervergleich regelmäßig Platz zwei bei Autounfällen unter Alkoholeinfluss einräumt, gleich hinter dem Burgenland. Und um die Kurve zum aktuellen Thema wieder zu kratzen seien die transleithanischen Patrioten noch darauf hingewiesen, dass sich unter den zehn Bezirken mit der höchsten Alkolenkerquote nur drei burgenländische, aber gleich fünf steirische befinden.

Wahrscheinlich hätte es sich eher bewährt im Reigen der österreichischen Bundesländer demonstrativ jene ohne spezielle Affinität zum Alkohol - Welche waren das noch gleich? - aufzuzählen, als eine taxative Enumeration der ethanolischen Gliedstaaten zu beginnen. Sei's wie's sei, der Fehler ist gemacht und wir sind in der Steiermark angelangt. Um die kleine Statistik von vorhin zu vervollständigen: Im südsteirischen Radkersburg waren 2010 immerhin 12% der Unfalllenker alkoholisiert, womit es einsam an der österreichischen Spitze steht. Insgesamt sind 4,3% der Steirer Alkoholiker, drei mal soviele stehen kurz davor.

Der Schilcher, ein Genuss für jedermann.
Aber um etwas von der Empirie herunter und zu den unbelegten Vorurteilen zurück zu kommen: Die Steiermark ist in weiten Teilen Rotenasenland. Was dem Burgenländer sein Uhudler ist dem Steirer sein Schilcher, ein Roséwein von ausgesprochener Fmackhafftigkeit und Füffe. Schon Papst Pius VI. soll seinen Geschmack gerühmt haben:
„Sie haben Uns einen rosaroten Essig vorgesetzt, den sie Schilcher nannten.“
Vielleicht war es auch der „Schücha“, der den armen Steirern den Sprechapparat verätzt hat. Die Bewohner des grünen Herzens Österreichs, wie das waldreichste Bundesland auch genannt wird, leiden nämlich neben dem Alkoholismus noch unter einer chronischen Erkrankung der Stimmbänder, die von Norden nach Süden hin degenerativ fortschreitet. Sie führt zu phonetischen Auswüchsen, die gemeinhin als Bellen und Tschentschen beschrieben werden und lautmalerisch nur schwer wiederzugeben sind. Für gewöhnlich wird je nach Ton- oder Stimmlage entweder gebellt oder getschentscht, also guttural oder hochfrequent gesprochen. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, sind die Steirer auch noch mit einer veritablen d/t, b/p und g/k Schwäche keprantmargd. Die sprachlichen Schrecklichkeiten, die sich aus alledem ergeben, lassen sich am besten in meinem Lieblingswitz zusammenfassen, den jeder der mich kennt schon 1000 mal gehört hat: 
„Warum essen Steirer keine Eier?“ - „Wö do a Doudta drin is.“ 
Für alle, die in die linguistischen Feinheiten des südlichen Österreich nicht eingeweiht sind: Steirer unterscheiden in der Aussprache nur unmerklich oder gar nicht zwischen Toten und Dottern, kulinarisch aber Gott sei Dank schon. Eigentlich wäre es ja wünschenswert, wenn die eine sprachliche Minderheit der anderen, nämlich den Steirer Slowenen, etwas Anerkennung zollen würde. Die Steiermark ist das letzte Bundesland mit im Staatsvertrag anerkannter autochthoner Minderheit, in dem keine zweisprachigen Ortstafeln stehen.
Im binnenösterreichischen Humor- und Spottkreislauf ist die Sprache dafür auch der größte Angriffspunkt, den die deutschsprachigen Steirer bieten. Als Halbsteirer wird man ja schon scheel angeschaut, wenn man den Namen einer Brücke, die von Knittelfeld nach St. Margarethen führt, ortstypisch ausspricht. Dabei versichere ich Ihnen, dass die „Goubernitzer Bruckn“ mein einziger Styriazismus ist und bleibt. Aber selbst mir fiel es schwer mir das Lachen zu verkneifen, als im Zug eine telefonierende Steirerin sagte „Es is jo scho boid Wouchende.“ Man sollte sich mit den Steirern diesbezüglich aber nicht allzu sehr spielen. Wie auch die Tiroler sind sie was Sprachwitze anbelangt oft etwas sensibel und können schnell zu „Gnouchnprecha“ werden.

Die Steiermark ist sonst jedoch ein nettes Pflaster. Vor allem die deutschen Leser möchten sich aber bitte merken, dass die Einwohnerschaft als Steirer und  nicht, wie auch schon gehört, als „Steiermärker“ bezeichnet wird. Es gibt zwar das Adjektiv „steiermärkisch“, das aber nur für die Bezeichnung offiziöser Einrichtungen - wie etwa der steiermärkischen Landesregierung - gebräuchlich ist. Nimmt man sich das zu Herzen und macht man sich außerdem nicht über ihre canidae-artigen Laute lustig, sind die Steirer umgängliche Leute und auch nicht aggressiver als der Durchschnittsösterreicher. Aber natürlich mag der gemeine Steirer auch nicht alles und jeden. Zu den mit Leidenschaft geführten Lokalfehden gehören jene mit den Niederösterreichern - der Semmering ist der Arlberg Ostösterreichs - und den Kärntnern. Mit ersteren verbindet sie der Dauerstreit um den Semmeringtunnel, mit letzten der liebenswürdige Brauch des wechselseitigen Für-dumm-Erklärens, was in diversen Kärntner- respektive Steirerwitzen mit ähnlichem oder gleichem Inhalt gipfelt. Das ficht die Steirer innernational aber wenig an, weil man in Österreich traditionell Burgenländerwitze macht... außer ich natürlich.

Über die Steirer wirklich etwas Böses zu sagen ist seit David Hume auch niemandem mehr eingefallen. Der britische Philosoph machte sich mit einer ungekannt spöttischen Art schamlos über die armen Bergbewohner her. Nach seinem Aufenthalt in Knittelfeld konstatierte er: „Die Steirer sind die hässlichsten Menschen der Welt. [...] Sosehr wie das Land in seiner Wildheit angenehm ist, so sehr sind die Bewohner unzivilisiert, deformiert und grässlich in ihrer Erscheinung.“ Außerdem hätten sie „hässlich geschwollenen Kehlen“. Die Horden der völkerwandernden Babaren hätte wohl, so Humes Mutmaßung, „den Abfall ihrer Armeen“ in der Steiermark zurückgelassen. Ihre Tracht sei kaum europäisch, ihre Gestalt kaum menschlich zu nennen. Über die Tiroler vermerkte er hingegen, sie seien so bemerkenswert schön, wie die Steirer hässlich.
„Debile und Taube tummeln sich in jedem Dorf, und das allgemeine Erscheinungsbild der Leute ist das schockierendste, das ich je gesehen habe.“  David Hume
Was Hume geritten hat, als er seine antisteirischen Hetzzeilen zu Papier brachte, ist nicht überliefert. Der Autor, ein Halbknittelfelder, ist jedoch geneigt die Schuld daran nicht auf den Aufenthaltsort sondern ganz einfach den Schilcher zu schieben. Der dürfte dem Philosophen so zugesetzt haben, dass er die wahre styriakische Schönheit nur als Zerrbild sah. So und nur so kann es - zur Ehrerrettung aller - gewesen sein.

Wenden wir uns nun von dieser unschönen Episode ab und der Herkunft des Landesnamens zu: Seltsamerweise hat das flächenmäßig zweitgrößte Bundesland seinen Namen von einer Stadt, die noch dazu in Oberösterreich liegt. Steyr hat aber mittlerweile alle Ansprüche auf seine Mark fallen gelassen, seine Exvasallen sagen „Vagöitsgoudt“. Es wäre auch ein Ärgernis sondergleichen, müsste man noch den Zehnten ins Traunviertel abführen. So bleiben das gute Kernöl, der köstliche Schilcher `_´ und die handgefertigten Klapotetze in steirischer Hand und werden ebenso gewinnbringend vermarktet, wie das Bier der Marken Gösser und Murauer. Besonders das aus Kürbissaat gewonnene schwarze Gold der Steiermark hat mittlerweile internationale Bekanntheit erlangt und ist als Herkunftsmarke durch die EU geschützt. Auch wenn manche Bauern ihr Kernöl angeblich gerne panschen, bleibt es immer noch steirischer als das billige Surrogat, das mittlerweile in China hergestellt wird.

Mit einem anderen Exportartikel aus dem grünen Herzen Österreichs ist es derweilen leider nicht mehr weit her: dem Eisenerz. Etliche Schlachten und zwei Weltkriege wurde mit Eisen und Stahl aus der Steiermark gefochten. Ein eher unschöner Anteil an der Weltgeschichte.
Der Wassermann, der den Eisenerzern - so heißt sinnigerweise eine Stadt - der Sage nach Eisen für immer versprach, damit sie ihn freiließen, hat sie zwar nicht nachweislich beschissen, der Eisengehalt des am Erzberg - dem Brotlaib der Steiermark - geschürften Erzes, lässt aber stetig nach. Zwar werden aufgrund der hohen Rohstoffpreise immer noch 2,15 Mio. Tonnen Erz im Tagebau gefördert, das bereits mehrfach verschobene Aus für den Erzabbau dürfte jedoch nur noch eine Frage der Zeit sein. Was den Steirern bleiben wird ist jedoch die ruhmreiche Montanuniversität zu Leoben, die letzte Hochburg des als Schnittstelle zur Neonaziszene geltenden „Ring Freiheitlicher Studenten“. Gegründet wurde sie 1840, wie die Landesbibliothek, die Steiermärkische Sparkasse, die Grazer Wechselseitige Versicherung und etliche andere Vereine und Institutionen vom Vater der Modernen Steiermark, Erzherzog Johann, der dort heute noch wie ein Heiliger verehrt wird. Der intellektuell deutlich begabtere jüngere Bruder des „Guten“ Kaiser Franz und Intimfeind Metternichs heiratete nach langem Widerstand im Erzhause eine Postmeisterstochter und widmete sich vor und nach einer Episode als Reichsverweser - auch weil man ihm den Aufenthalt in Tirol verboten hatte - dem industriellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbau der Steiermark. 1850 wurde er sogar zum Bürgermeister von Stainz gewählt. Man wird sich schwer tun einen humanistischeren und vor allem gescheiteren Habsburger zu finden. Etwas schmachtvoll, wenn auch nicht unverdient steht daher auf seinem Denkmal am Grazer Hauptplatz:
„Unvergesslich lebt im Volke, wer des Volkes nie Vergaß.“
Trotz der johanneischen Reformen wird die Steiermark aber immer noch geographisch, gesellschaftlich, kulturell und vor allem politisch in Ober- und Südsteiermark getrennt. (Die ehemalige Untersteiermark liegt heute in Slowenien.) Die Obersteirer sind SPÖ-wählende, biertrinkende, schwammerlsuchende Arbeiter und bellen nicht ganz so wild wie die im Süden, wo man traditionell für die ÖVP stimmt sowie Wein, Kürbisse und Kukuruz anbaut.

Das innersteirische Gleichgewicht hat aus diesem Bundesland eine Art gesamtösterreichisches Politbarometer gemacht. Bis auf 2006 war bei Nationalratswahlen jene der beiden Großparteien im Bund vorne, die auch die Steiermark erobert hatte. Ansonsten ist das Land aber ein gordischer Knoten der Politik. Die Roten sind besonders rot und Landeshauptmann Voves muss sich als Kernölsozialist verunglimpfen lassen, wenn er Vermögenssteuern fordert. Die Schwarzen sind gänzlich unberechenbar, die Bundes-ÖVP fürchtet sich traditionell vor allem was aus der Steiermark kommt. Dann gibt's da allen Ernstes noch die KPÖ. Zwei Sitze halten die Marxisten von der Mur im Grazer Landtag, ihre einzigen Parlamentsmandate in ganz Österreich. Dafür sind dann aber die Blauen auch besonders rechts - Stichworte Moscheespiel und Knittelfeld. Im Land selbst regierten jahrzehntelang die Schwarzen, was sich für die ohnehin schon strukturschwache Obersteiermark besonders ungünstig auswuchs. Die ÖVP-geführten Gemeinden im Süden erhielten vom Land nämlich einfach mehr Förderungen. Wie das geht? Fragen sie die ÖVP... Seit die Steiermark eines von drei Bundesländern ist, in denen seit 1945 ein substanzieller Regierungswechsel stattgefunden hat, werden unter der SPÖ-geführten großen Koalition die Förderungen gleichmäßig verteilt und die Gemeinden wechselseitig kontrolliert:  die schwarzen Orte von roten Landesräten und die roten Gemeinden von schwarzen Regierungsmitgliedern. Lösungen können manchmal so einfach sein.

Ob die Förderungen im Norden allerdings noch viel ausrichten können, darf bezweifelt werden. Städte wie Knittelfeld oder Kapfenberg sind längst tote Zonen. Die in weiten Teilen nicht konkurrenzfähige Schwerindustrie ist abgewandert oder hat aufgrund der Technisierung Arbeitsplätze abgebaut. Außerdem hat eine verbrecherisch-dumme Raumplanung es ermöglicht, dass vor den Toren der Städte Einkaufszentren in die grüne Wiese gestellt wurden. Als Folge sind die Innenstädte ausgestorben, die Bevölkerung wandert ab. Allein Kapfenberg hat seit 1971 22,5% seiner Einwohner verloren, in Bruck an der Mur ist die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um über 17% zurückgegangen, in Knittelfeld waren es 20,5%, in Eisenerz sogar 57%. Im Jahr 2050 werden voraussichtlich über 37% der steirischen Bevölkerung über 60 Jahre alt sein, darin nur übertroffen von Kärnten und dem Burgenland (je 39%), während in Wien nur 29% dieser Altersgruppe angehören werden. Natürlich ist dieses Phänomen der Entvölkerung und Überalterung nicht nur auf die Obersteiermark beschränkt, tritt dort aber besonders extrem zu Tage. Während Fürstenfeld in der Südoststeiermark seit 1971 nur einen leichten Bevölkerungsabgang verbuchen musste, hat die Einwohnerzahl in Graz (5%) Deutschlandsberg (11,5%) und Leibnitz (17%) sogar zugenommen.
Zudem hat die Steiermark ein Schuldenproblem, dem sie neuerdings mit einer Verwaltungsreform begegnen will, ein Phantom, das in Österreich immer dann auftaucht, wenn die Politiker besonders ideenlos und die Kassen besonders klamm sind. Bezirkszusammenlegungen sowie Landesregierungs- und Landtagsverkleinerung stehen auf dem Programm von Landeshauptmann Voves und seinem Stellvertreter dem ewigen Schützenhöfer. Innert kürzester zeit haben sich die beiden Langzeitfeinde auf substanzielle Budgeteinschnitte geeinigt. Vielleicht könnte sich der restliche Bundesstaat da eine Scheibe abschneiden? Wer die steirische Lokalpolitik verfolgt weiß, dass die Einigung einem Wunder gleich kommt, das nur mit dem Fall der Berliner Mauer verglichen werden kann. Die beiden Kontrahenten hatten sich jahrelang bis auf die persönliche Ebene bekriegt. Der arabische Frühling? Eine historische Fußnote. Voves und Schützenhöfer arbeiten! Zusammen! Die Steiermark ist eben immer wieder für Überraschungen gut.

„Treu dem guten Alten, aber darum nicht minder empfänglich für das gute Neue.“ Erzherzog Johann
Was wir über die Steiermark wissen (© Pammesberger)

Freitag, 7. Oktober 2011

Herbert Sausgruber geht, oder: Der Mann ohne Eigenschaften.

Herbert Sausgruber wird nach über 14 Jahren als Vorarlberger Landeshauptmann zurücktreten. Seine Gesundheit erlaube ihm das übliche Arbeitspensum von 70 bis 80 Wochenstunden nicht mehr, so die Begründung. Aber wer ist dieser Sausgruber eigentlich und hat man ihn wirklich gekannt?

Das politische System Vorarlbergs ist geprägt von permanenter Stabilität. Sausgruber ist erst der vierte Landeshauptmann seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, während Österreich schon vom zwölften Kanzler regiert wird. Dabei liegt er mit der Länge seiner Amtszeit im Vergleich nur im Mittelfeld. Zwar regierte sein unmittelbarer Vorgänger Martin Purtscher verhältnismäßig kurze zehn Jahre, die Landeshauptleute Ilg und Kessler jedoch 19 und 23 Jahre. Die lange Funktionsperiode der Landespatriarchen ist hierzulande jedoch generell typisch. Sausgruber ist nach Pröll (seit '92), Häupl (seit '94) und Pühringer (seit '95) derzeit nur der viertlängst-dienende Landeschef.
Bevor er 1997 in sein aktuelles Amt gewählt wurde, war er sieben Jahre lang Statthalter, also Stellvertreter des Landeshauptmannes. Den Parteivorsitz der Vorarlberger ÖVP, den er nunmehr mit sofortiger Wirkung niedergelegt hat, hatte er aber bereits 1986 übernommen. Ein Vierteljahrhundert ÖVP-Obmannschaft bedeutet vor allem eines: Sausgruber ist ein Partei- und ein Machtmensch. Trotzdem gilt er weithin als eher unscheinbarer Technokrat. Unter den österreichischen Landeshauptleuten ist er wohl die farbloseste Figur. Er spricht langsam und bedächtig, fast einschläfernd. Seitenscheitel, runde Brille, schlanke Figur: An Sausgruber hat sich bis auf die ergrauten Haare nie etwas verändert, er ist die fleischgewordene Volkspartei. Seine politische Arbeit fand dabei vor allem hinter den Kulissen statt, nur selten trat er laut auf.

Nur, als ausgerechnet die schwarz-blaue Bundesregierung den Gebietskrankenkassen eine Zwangsumverteilung aufbürdete, um marode Versicherer unter ihnen zu sanieren, begehrte Sausgruber auf. Die Auflösung der Rücklagen der VGKK bekämpfte die Landesregierung beim VfGH und bekam Recht. Ansonsten hielt sich „Häuptling Sausewind“, wie er auch ironisch genannt wurde, großteils aus der Bundespolitik heraus. Er verfolgte das, was er wohl selbst den „Vorarlberger Weg“ nennen würde. Das bedeutete für Ihn vor allem völlige Machtentfaltung auf Landesebene. 

Die schweigsame Art, das besonnene Auftreten täuschten all die Jahre darüber hinweg, dass Herbert Sausgruber ein kühl kalkulierender Pokerspieler ist, der im Hintergrund auch schon mal über Leichen ging. Dass er seinen Vorgänger Purtscher mehr oder weniger unsanft aus dem Amt gemobbt hat, ist dabei nur eine Facette. Dieser hatte nie Landesparteiobmann werden wollen, ein politischer Verzicht, den Sausgruber zum systematischen Aufbau seiner Hausmacht nutzte. Als die Stunde geschlagen hatte, wollte sich Purtscher den kindischen Clinch nicht mehr geben und ging. Sausgrubers Ambitionen erhielten aber schon zwei Jahre später einen jähen Rückschlag, als er 1999 als erster Vorarlberger Landeshauptmann die absolute Mehrheit der ÖVP im Landtag verlor. Die Koalition mit der FPÖ, die man seit dem 70ern nach dem Motto „divide et impera“ geführt hatte - wurde nun zum politischen Muss. Die Statthalterschaft ging vorübergehend an Hubert Gorbach und dessen Nachfolger Dieter Egger über. Die Absolute konnte der Landeshauptmann 2004 jedoch zurückerobern und 2009 verteidigen. Vor der letzten Wahl kündigte er an die Blauen wegen antisemitischer Wahlkampfaussagen Eggers aus der Regierung zu schmeißen. Ein mutiger Schritt, aber es heißt auch, das habe ihm die Absolute gerettet.

In der Regierung verfolgte der Landeshauptmann den gewohnten Vorarlberger Kurs des wirtschaftlichen Liberalismus und gesellschaftsmoralischen Konservativismus. Prostitution blieb de facto verboten, Abtreibungen in Landeskliniken ebenso. In diesen Punkten steht ihm auch sein designierter Nachfolger Markus Wallner um nichts nach. Vermutlich hat Sausgruber ihn auch deshalb ausgewählt: Sie sind ideologische Zwillinge. Innerparteiliche Konkurrenten wurden systematisch kaltgestellt, meist ohne dass die Öffentlichkeit viel davon erfahren hätte. Dass Landesrat Rein aus der Regierung in die Wirtschaftskammer wechselte, war aber ebenso kein Zufall wie die Entgleisung Sausgrubers, als er den Prozess gegen den Feldkircher Bürgermeister Berchtold eine Belastung für die Partei nannte. Vielleicht war dies das einzige Mal, dass man den Machtmenschen Sausgruber wirklich öffentlich sehen konnte. Den langjährigen innerparteilichen Konkurrenten und als potentiellen Nachfolger gehandelten Berchtold in dessen schwächster Stunde mit dem Speer niederzustrecken, war ein Vorgehen, das ihm auch innerhalb der Landes-ÖVP viel Kritik einbrachte. Sausgruber konnte das egal sein, er hatte Wallners Nebenbuhler von der Basis ausgeschalten. Die anderen „Papabiles“ Rüdisser und Gögele wurden dagegen erst in letzter Minute ausgebremst.

Lange hatte sich der Landeshauptmann geziert zurückzutreten, wie ein Kind, das nicht ins Bett will. Aus dem Amt des Landeschefs wird man ja selten abgewählt. Daher bleiben für den Generationenwechsel meist nur zwei Möglichkeiten: Parteirevolte oder Rücktritt. Dass Sausgruber sich so lange halte konnte, hat unmittelbar mit seiner Verfügungsgewalt über die Landespartei zu tun. Eine Revolte ist nicht nur grundsätzlich unvorarlbergerisch, sie war auch durch die allerorts vorhandenen Gewährsleute des 25-Jahre-Parteichefs ausgeschlossen. Nicht, dass Sausgruber überhaupt keine Gegner gehabt hätte, insbesondere der Wirtschaftsbund stand ihm immer kritischer gegenüber. Er durfte die Wahlkämpfe der Landespartei finanzieren, machtpolitisch wurde er aber klein gehalten, ein Mitgrund für den frustrierten Abgang Manfred Reins. Fünf von sieben Regierungsmitgliedern und die beiden Landtagspräsidentinnen, die die ÖVP stellt, gehören dem Arbeitnehmerbund an. Postenmäßig sieht sich der Wirtschaftsbund seit Jahren unterrepräsentiert. Dafür, dass das auch so bleibt, sorgte Sausgruber vor seiner Abgangsankündigung noch selbst. Telefonisch ließ er die einzelnen Mitglieder im Parteivorstand befragen, ob sie denn mit Wallner einverstanden wären. Demokratie, auf die man in Vorarlberg sonst so viel hält, sieht gewöhnlich anders aus. Letztlich gab auch der Wirtschaftsflügel seinen Widerstand gegen Wallner auf und ließ seinen Gegenkandidaten Rüdisser fallen. Der könnte als Ausgleich den Statthalterposten erben. Rainer Gögele wird als Landesrat für das Gesundheits- und Hochbauressort gehandelt.
„Und meine Frau freut sich auch.“  - Herbert Sausgruber
Was kann man sonst noch über Herbert Sausgruber sagen, außer dass er nur selten sein wahres Gesicht gezeigt hat und langsamer spricht, als ein Schlaganfallpatient? Konservativ war er, aber welcher Schwarze ist das nicht? Und gut, er war ein Föderalist, aber man wird wohl lange auf einen Vorarlberger Landeshauptmann warten müssen, auf den diese Aussage nicht zutrifft.
Er war ein nach außen unaufgeregter Charakter, der in seiner politischen Schublade immer ein geschliffenes Messer parat hatte. Er versuchte die zwei Vorarlberger Tugenden schlechthin zu verkörpern: Emotionale und finanzielle Ausgeglichenheit. Wenn man jetzt davon spricht, dass der „Landesvater“ zurückgetreten sei, ist das aber übertriebene Lobhudelei. Sausgruber war kein „Pater Patriae“, denn für so etwas braucht man Eigenschaften wie Sanftmut und Güte. Er aber war vielmehr wie eine Schildkröte: langsam aber zielstrebig, mit dickem Panzer und wechselblütig. 

Zugegeben, er hat das Land nicht bankrottiert und das muss man einem Politiker heutzutage ja schon hoch anrechnen, seine Innovationsbereitschaft aber hielt sich vor allem im gesellschaftspolitischen Bereich in sehr engen Grenzen. Vorarlberg ist heute ein fast schuldenfreies Land ohne Universität mit einem Minarettbau- und Nacktbadeverbot sowie mehreren geheimen Straßenstrichen. Eine gewisse konservative Verlogenheit kann man dieser Situation nicht absprechen. Herbert Sausgruber hat dafür gesorgt, dass sich daran in absehbarer Zeit nichts ändern wird.


Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht!  - Robert Musil - Der Mann ohne Eigenschaften