Mittwoch, 29. September 2010

90 Jahre Bundesverfassung - Der Jopi Heesters unter den Konstitutionen

Josef Pröll hat Probleme mit einer Neunzigjährigen. Nein, es handelt sich nicht um eine Pensionistin, die sich um die Zukunft ihrer Rente im Zeitalter des „ökologisierten Steuersystems“ sorgt, sondern um die österreichische Bundesverfassung. Der Vizekanzler und Finanzminister sieht sich außerstande bis zum 22. Oktober dieses Jahres dem Nationalrat den Entwurf für ein Bundesfinanzrahmengesetz vorzulegen, wie es Art. 51 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) verlangt. Pröll rechtfertigt den offensichtlich wahltaktischen Schachzug – das zu erwartende Sparbudget sollte den Wahlkampf der Regierungsparteien in Wien und der Steiermark nicht beeinträchtigen – mit einer Schlupfklausel des Art. 51a B-VG, die die verspätete Budgetpräsentation bis spätestens 1. Dezember decken soll.

Die Opposition hat keine Möglichkeit ein Budget zu erzwingen, VfGH-Präsident Gerhart Holzinger kann die Wahrung des Gesetzes nur einmahnen und Bundespräsident Heinz Fischer gibt sich wie immer nachdenklich und zögerlich. Der österreichische Rechtsstaat und mit ihm die Verfassung steckt aber nicht erst seit dem ignorierten Ortstafel-Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes in einer Krise.

Die Bundesverfassung, genauer ihr Kerngesetz das B-VG, feiert am 1. Oktober den 90. Jahrestag ihrer Beschlussfassung durch die Konstituierende Nationalversammlung. Sie war von Beginn an ein typisch österreichischer Kompromiss: So wurde die Debatte über eine Präambel von vornherein ausgeschieden, da man sich, wie der christlichsoziale Abgeordnete und spätere Bundeskanzler Ignaz Seipel meinte, auf ein Vorwort ohnehin nicht hätte einigen können. Auf neue Grund- und Freiheitsrechte verzichtete man aus derselben Überlegung heraus. Man entschied sich kurzerhand für die Beibehaltung des Staatsgrundgesetzes von 1867 „über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“. Eines der ältesten europäischen Verfassungsgesetze die heute noch in Gültigkeit stehen. In den Beratungen zur neuen Verfassung setzte das rechte Lager die Schaffung eines Staatsoberhauptes durch, das linke dessen weitgehend repräsentative Rolle. Die Länder bestanden auf einer eigenen Parlamentskammer, die Sozialdemokraten wollte deren Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung infolge so gering wie möglich halten. Der Bundesrat wurde bewusst als politische Totgeburt geschaffen.
Dennoch hatten gerade die Länder mit der neuen Verfassung mehrere Erfolge erzielt: Zunächst wurde die Republik als Bundesstaat eingerichtet, für einen ehemaligen Zentralstaat keine Selbstverständlichkeit. Mit eigenen Parlamenten, Regierungen und Verfassungen schafften es die vormaligen Kronländer damit zu bundesverfassungsrechtlich anerkannten Teilstaaten. Die Tatsache, dass sich die Nationalversammlung in Wien für eine föderalistische Verfassung entschied, beruhte jedoch weniger auf einem überbordendem Dezentralisierungseifer der Abgeordneten, als vielmehr auf der realpolitischen Situation des Gesamtstaates nach dem Untergang der Monarchie. Während eine gemeinsame Vertretung der deutschsprachigen Gebiete Zisleithaniens neben dem Reichsrat als Vielvölkerparlament nicht bestanden hatte, konnten die neuentstandenen Bundesländer auf die Verwaltungsstrukturen der untergegangenen Kronländer und ihren Statthaltereien zurückgreifen. Dieser strategische Vorsprung sollte dem Zentralparlament selbst nach der ersten freien Wahl am 16. Februar 1919 noch zu schaffen machen. Während sich in Wien Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Großdeutsche wegen der neuen Verfassung in den Haaren lagen, hielten die Länder gemeinsame Konferenzen ab und erhöhten damit den Druck auf die Nationalversammlung. Diese hatte sich zwar schon drei Tage nach der Abdankung Kaiser Karls mit dem „Gesetz betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ vom 14. November 1918 bemüht den zentrifugalen Kräften entgegenzuwirken, musste aber weiterhin mit der ständigen Gefahr leben, die Länder könnten unter Umgehung von Staatsregierung und Parlament eine neue bundesstaatliche Verfassung ausarbeiten. Einen drohenden Staatszerfall ließen auch die Anschlussbestrebungen in Vorarlberg (das zur Schweiz wollte), Tirol und Salzburg (die eine Eingliederung nach Deutschland anstrebten) befürchten. Die Sezessionstendenzen in den Ländern wurden, ebenso wie ein gesamtösterreichischer Anschluss an die Weimarer Republik, durch den Friedensschluss in Saint Germain begraben.
Das Bundesstaatliche Prinzip, wie es im B-VG schließlich verwirklicht wurde, war ebenso eine Reaktion auf die realpolitischen Zwänge der jungen Republik, wie die Annahme der Friedensbedingungen der Alliierten. Seipel gab dies auch ohne Umschweife zu:
„In den Diskussionen (…) in der Öffentlichkeit und auch im Unterausschuss und im Verfassungsausschuss ist öfters die Frage erörtert worden, aus welchem Grunde wir uns eigentlich für den bundesstaatlichen Gedanken entscheiden müssen. (…) Ich gebe ganz gern zu, daß es vor allem auf die gegenwärtigen, wirklichen Machtverhältnisse im Staat ankommt. Die Verfassung kann nicht, am allerwenigsten in einer Zeit wie der unsrigen, ein Werk bloß theoretischer Erwägungen sein. (…) Man muß mit den Realitäten rechnen.“
Nicht nur die Sozialdemokraten und Großdeutschen waren dem Föderalismus von vornherein kritisch gegenübergestanden. Auch Hans Kelsen, häufig als Architekt der Bundesverfassung bezeichnet, hatte mit der Aufnahme des föderalen Prinzips in sein Auftragswerk nur wenig Freude. Er nannte die Länder „die rückständigste Institution der alten Monarchie“ und charakterisierte den Bundesstaat als „irrational, kompliziert und kostspielig.“ Dennoch vermittelte er den Ländern etwa den Kompromissvorschlag für die Beschickungsformel für den Bundesrat, die heute noch gilt.
Kelsens Herzstück aber war der, nach seinen Vorstellungen konzipierte Verfassungsgerichtshof, der weltweit erste seiner Art. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erkor er im Streit mit seinem deutschen Konterpart Carl Schmitt zur „Hüterin der Verfassung“. Sie war in der Tat eine der innovativsten Neuerungen die das B-VG hervorbrachte und wurde seitdem vielfach kopiert. Kelsen wurde sogar selbst Höchstrichter am VfGH, viel aber später einer politischen Umfärbungsaktion zum Opfer. Ihm verdankt das B-VG auch seine klare, schnörkellose Sprache. Kelsen lehnte als Verfechter Rechtspositivismus, dessen führender Exponent er war, selbst den Wortlaut des Art. 1 B-VG – „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ – ab. Er war ihm zu programmatisch. Karl Renner soll seinen Einwänden mit dem Satz begegnet sein:
„Herr Professor, Sie haben Recht, aber irgend etwas Schönes soll doch auch in der Verfassung stehen.“
Als geborener Jude musste Kelsen vor den Nazis fliehen und starb schließlich 1973 im Exil im amerikanischen Berkeley.
Das Bundes-Verfassungsgesetz, an dessen Entstehung neben Renner, Kelsen und anderen auch Michael Mayr und Robert Danneberg beteiligt waren, konstituierte Österreich zunächst als strikt parlamentarische Demokratie. Die Bundesregierung wurde durch den Nationalrat gewählt, der Oberbefehl über das Heer lag ebenso beim Parlament. Ihre präsidiale Komponente erhielt die Verfassung erst mit der Novelle von 1929 in der das erstarkende autoritär-rechte Lager die Regierungsernennung durch den Bundespräsidenten durchsetzte. Die sozialdemokratische Opposition bestand jedoch weiterhin auf der Verantwortlichkeit der Bundesregierung vor dem Nationalrat und verlangte die Direktwahl des Staatsoberhauptes, eine Bestimmung die zunächst ausgesetzt wurde und erst 1951 bei der Wahl Theodor Körners angewendet werden sollte. Doch auch die Umwandlung in ein semipräsidentielles System konnte die Verfassung letztlich nicht vor dem Putsch von oben retten, mit dem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß Parlament und Verfassungsgerichtshof beseitigte, um ein ständisch-autoritäres Regime als Konkurrenzfaschismus zur NS-Ideologie zu errichten. Seine neue Bundesverfassung ließ der Diktator am 1. Mai 1934 „im Namen Gottes des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht“ verkünden. Sie trat nie in vollem Umfang in Kraft und fiel – wie zuvor Dollfuß – den Nationalsozialisten zum Opfer, die Verfassungen als grundsätzliches Hindernis ihrer Politik ansahen.

Als Karl Renner nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes erneut eine provisorische Staatsregierung ins Leben rief, erklärte diese in Art. I der von ihr am 27. April 1945 erlassenen Unabhängigkeitserklärung, dass die Republik „im Geiste der Verfassung von 1920“ wiederherzustellen sei. Um sich eine langwierige Verfassungsdebatte zu ersparen, wohl aber auch aus Angst vor der zu erwartenden Einmischung der Alliierten, wurde das Bundes-Verfassungsgesetz mit geringen Abänderungen samt der Novelle von 1929 wieder in Kraft gesetzt. Was in der Ersten Republik nicht geglückt war, verwirklichte sich nach 1945 seltsamerweise auf dem Boden derselben Verfassung: Die Etablierung eines stabilen und demokratischen politischen Systems.

Seitdem hat sich das B-VG jedoch erfolgreich jeder tiefgreifenden Reform, sieht man vielleicht von den Änderungen im Zuge des EU-Beitritts ab, wiedersetzt. Besonders die Länder haben sich als notorische Blockierer erwiesen, nachdem sie seit 1920 kontinuierlich Kompetenzen einbüßen mussten. Verfassungsrechtler Heinz Mayer konstatiert dazu:
„Der Föderalismus ist in Österreich eigentlich vor allem dadurch wahrnehmbar, dass er sehr vieles verhindern kann, dass er aber sehr wenig selbst gestalten kann.“
Obwohl die Länder nach dem Wortlaut der Verfassung einer kompetenzrechtlichen Flurbereinigung nur sehr wenig entgegenzusetzen hätten, gibt ihnen die Realverfassung dennoch genug Möglichkeiten sich querzulegen. Diese Realverfassung macht sich überall dort bemerkbar, wo die Worte der Bundesverfassung den tatsächlichen Spielregeln des politischen Systems nicht entsprechen. Der Bundespräsident, verfassungsrechtlich ein potentiell mächtiger Player, gibt sich mit der Rolle des Landesvaters zufrieden, die Gesetzgebung findet realiter großteils im Ministerrat und nicht im Parlament statt, der Bundesrat ist ein parteipolitischer Appendix des Nationalrates und kein Vertretungsorgan der Länder. Dieses findet sich vielmehr in der Landeshauptleutekonferenz, einem informellen Gremium das in der Bundesverfassung mit keinem Wort erwähnt wird. Die „Landesfürsten“ sind es auch, die es verstehen in diesem Spannungsfeld zwischen verfassungsrechtlichen Vorgaben und politischen Interessen ihr gesamtes Gewicht innerhalb ihrer Parteien in die Waagschale zu werfen, um sich selbst nicht eines Tages in bedeutungslosen Positionen von Provinzgouverneuren wiederzufinden.
Das Kerngesetz B-VG ist, wie die Bundesverfassung insgesamt, in die Jahre gekommen und renovierungsbedürftiger denn je. Noch immer verfügt es über keinen eigenen Grundrechtskatalog, die Masse an Verfassungsrecht außerhalb des B-VG ist nach wie vor ebenso gigantisch wie unübersichtlich und die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern gleicht einem gordischen Knoten. Angesichts der Beharrungstendenz festgefahrener Verfassungsspielregeln, hat selbst der ehemalige Verfassungsgerichtshofspräsident Ludwig Adamovich jr. seinen Glauben an die seit Jahrzehnten projektierte und nie in Angriff genommene Verfassungsreform verloren:
„Als langjähriger Beobachter der Szene kann man da nur skeptisch sein. Sonst müsste man schon eine Parzivalnatur sein.“
Dabei liegen die Reformkonzepte schon seit Jahren auf dem Tisch, bislang hat es, so sind sich die Experten einig, nur am Umsetzungswillen der Politik gefehlt.
Die überfällige Generalüberholung des Bundesverfassungsrechts mag zumindest Josef Pröll zurzeit noch wenig beschäftigen. Solange die Opposition ob seiner Missachtung des Art. 51 B-VG schäumt, das Parlament zu Sondersitzungen einberuft und seinen Verweis auf das Budgetschlupfloch ungehört verhallen lässt, liegt das Dauerprojekt Verfassungs- und Verwaltungsreform wieder einmal auf Eis. Ob eine Regierung ohne Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, die keinen fristgerechten Bundeshaushalt vorzulegen vermag, eine solche Mamutaufgabe überhaupt stemmen kann, darf ohnehin bezweifelt werden. Bis die Mär von der Reform der Reformen eines Tages vielleicht doch noch Wirklichkeit wird, müssen wir uns mit der greisen Jopi-Heesters-Verfassung begnügen, die wir haben. Die Schlechteste ist sie ja doch nicht.

Freitag, 17. September 2010

Der Ruf des Sarrazin, oder: Die finstere Macht der Gene.

Falls Sie es noch nicht wussten erfahren Sie es jetzt: Türken haben andere Gene als Deutsche! Nein, da ist kein Ü statt einem A zwischen G,T und C in ihrem Genom, sie sind nur... anders. Türken haben meistens dunklere Haut und dunklere Haare und so... Außerdem kriegen sie schon mit zwölf einen Bart - die Mädchen - und haben meist braune Augen. Auf ihrem dritten Chromosomenpaar sitzt die Anlage für renitentes Rumgepöbel und am fünften der penetrante Knoblauchgeruch. Die Kopftuchsucht - eine dominante über die X-Komponente des 23. Chromosomenpaares von der Mutter zur Tochter weitergegebene Erbkrankheit - ist im Türkentum außerdem endemisch.

Nein, das hier ist nicht das Diskussionsforum der Kronenzeitung oder die Zusammenfassung des letzten NPD-Parteitages, es ist schlichter Schwachsinn. Nicht dass erstere nicht auch Schwachsinn wären, aber der hier ist speziell, weil von mehreren für voll genommen.
Die Jahre nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms haben der Welt einen Wahren Rausch der Gengläubigkeit gebracht. Jetzt weiß man, dass nicht nur Sichelzellen und Bluterkrankheit mit der Vererbung zu tun haben, sondern auch Fettleibigkeit, Demenz und Orangenhaut.
Ich bin ein Anhänger der Quantentheorie - ja ich schweife ab - nicht weil ich etwas von Physik verstünde, sondern weil ich den philosophischen Beigeschmack mag den sie hinterlässt. Wenn ein Teilchen gleichzeitig an zwei Orten sein kann, zerfallen und nicht zerfallen sein kann, ist das - Sie haben es erfasst - paradox unbegreiflich und widersinnig. Passt ganz gut zum echten Leben. Vor allem huldigt die Quantentheorie aber einer Naturgewalt: Dem Zufall.
Nur weil jemand mit 60%iger Wahrscheinlichkeit an Demenz erkranken wird, heißt das noch nicht, dass er auch dement wird. Vielleicht wird er vorher von einem betrunkenen BZÖ-Politiker niedergefahren, vielleicht wird er aber auch 100 und stirbt an einem Schwächeanfall nach einem Halbmarathon.
Überhaupt verraten uns die Gene lange nicht alles und sie beeinflussen nicht nur uns, wir beeinflussen auch sie und zwar in einem wesentlich höheren Ausmaß als das bislang angenommen wurde. Die Gene sind das Rüstzeug, das uns das Leben mit auf den Weg gibt. Einiges ist hilfreich, anderes lästig, manches tödlich. Letztendlich kommt es aber darauf an was wir daraus machen.
Zu behaupten dass etwa integrationsresistente Araber oder renitente türkische Jugendliche Opfer ihrer Gene geworden sind, ist genauso plausibel als würde ein Konsument von Kinderpornografie vor Gericht die Schuld auf Microsoft schieben. Wir sind keine Opfer unseres Betriebssystems. Wir sind verantwortlich für unser Handeln, es gibt kein Schicksal, das bis zum Ende des Universums vorgeschrieben wäre, wir können nicht erahnen was wir morgen erleben oder ob ein Elektron nun hier oder dort oder an beiden Orten gleichzeitig ist. Ein Mensch der sich und seine Familie nach außen abschottet und ein internes Terrorregime führt, ist zunächst ein Arschloch und dann ein Ergebnis seiner Anlagen, der Umwelteinflüsse und seiner Entscheidungen. Diese drei Komponenten können wir nicht entkoppeln und fast nie ist nur eine ausschlaggebend für eine bestimmte Entwicklung. Es gibt Männer die zwei Y-Chromosomen haben - ja das gibt es und es führt (Überraschung!) zu angeblich erhöhter Aggressivität -, aus schwierigen Verhältnissen stammen und ihr Leben trotzdem auf die Reihe gebracht haben. Es gibt aber auch die aus wohl behütetem Hause, die zu Massenmördern wurden. Natürlich liegt die Gauß‘sche Glockenkurve der Lebensrealität wohl dazwischen, trotzdem müssen wir mit den Schwerpunktargumentationen vorsichtig sein. Nach einem Schulmassaker kommen die, die von einem Psychopathen sprechen, der aus bloßer Machtgier Menschen getötet hat, andere sehen den gehänselten Außenseiter der von der Gesellschaft ausgeschlossen und dadurch in die Täterschaft getrieben wurde. In Wirklichkeit ist er beides. Das Eine darf aber keine Ausrede oder Entschuldigung für das Andere sein. Wir müssen aufhören in einer bipolaren Welt von gut und böse, Täter und Opfer, Genen und freiem Willen zu leben. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, es gibt aber auch nicht nur das unipolare Weltbild mit nur einem Grauton. Wir müssen die Schattierungen erkennen und benennen ohne in Vorurteilsdenken (Ja, ich schreib sowas) oder Gleichmacherei zu verfallen. Ausländerfeindlichkeit ist keine Entschuldigung für Integrationsverweigerung und Integrationsverweigerung ist kein Grund für Ausländerfeindlichkeit.

Nun behauptet ein ehemaliger deutscher Finanzsenator aus Berlin und mittlerweile zurückgetretenes Bundesbankvorstandsmitglied, dass gewisse gesellschaftliche Probleme auf genetische Faktoren zurückzuführen seien. Das ist unwahr und heikel. Der Herr mit der hängende Gesichtshälfte - keine Erbkrankheit, sondern Folge einer Operation - glaubt nicht nur, dass dumme Menschen genetisch dumme Kinder bekommen, sondern auch dass Juden durch Selektion intelligenter sind. Die Deutschen können auch nichts richtig machen: Sagt mal einer was Positives über die Juden und trotzdem ist es rassistisch. Außerdem führt Sarrazin die hohe Zahl an Erbkrankheiten in türkischstämmigen Familien mehr oder weniger direkt auf ihre ethnische Herkunft zurück. Etwas viel starker Tobak für ein Buch, aber er hat ihn komprimiert und literarisch zu einem orangen Schinken mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ verarbeitet.

Wie gesagt ist das mit den Genen so eine Sache. Sie verraten uns interessante Dinge, aber eben nicht alles. Wir wissen, dass Türken ein höheres Schmerzempfinden haben, als Durchschnittsmitteleuropäer und dass Hitler sich nach neuesten Erkenntnissen eine Haplogruppe - das sind bestimmte Genanordnungen innerhalb eines Chromosoms - mit Berbern und aschkenasischen Juden teilte. Wir wissen auch, dass Finnen und Basken relativ isolierte genetische Eigenschaften entwickelt haben. Auch gewisse Erbkrankheiten weisen geografische Schwerpunkte auf. Wir dürfen das interessant finden, aber nicht mehr. Zur Entwicklung irgendwelcher perversen Rassentheorien ist die Humangenetik sowieso nicht geeignet. Vielmehr hat sie das Nazikonstrukt vom Herrenvolk endgültig eingerissen. Europa teilt sich in zwei große Gengruppen" auf, in denen so verschiedene Völker wie Schweden und Ukrainer größere Gemeinsamkeiten aufweisen als es der Durchschnittsnazi vermuten würde (Siehe hier).
Wohin ist überhaupt die Hallstadtkultur verschwunden? Wo sind die Kelten geblieben und die Römer? Haben die Hunnen uns still und heimlich verlassen? Ist die K&K-Monarchie spurlos an uns vorübergegangen? Mitnichten. In der Nähe eines kleinen Dorfes im deutschen Harz fand man 3000 Jahre alte bronzezeitliche Knochen. Man wagte einen Versuch und untersuchte die örtliche Bevölkerung. Die Verwandten der Bronzezeitmenschen leben heute noch dort. Keine Völkerwanderung, kein Dreißigjähriger Krieg hat sie von dort vertrieben. Vor 3000 Jahren lebten die Völkerschaften, die man später als Germanen verallgemeinern sollte, vermutlich noch in Zentralasien. Weder hat es die Germanen als einheitliches Volk historisch gegeben - sie sind vielmehr eine römische Konstruktion - noch gibt es sie heute noch als genetische Alleinvorfahren von A wie Angelsachsen bis Z wie Zimbern. Vergleichsstudien (siehe Bild oder auch hier) haben vielmehr die komplex verflochtene Verwandtschaftsstruktur der Europäer verdeutlicht. „Die Österreicher“ liegen dabei nicht nur geografisch dem Erdteil inmitten, wie es die zweite Strophe der Bundeshymne so schön ausdrückt. Das jüngst wieder gepriesene Wiener Blut ist wie ein Restelessen aus der Suppenküche des halben Kontinents. Auch „die Germanen“ haben irgendwann die Integration geschafft, genauso wie die hugenottische Familie Sarrazin, die im 16. Jahrhundert vor der Bartholomäusnacht von Frankreich nach Deutschland floh. Hat man aus ihrer Schichtzugehörigkeit eine krude Erbgutlehre entwickelt? Hat man behauptet, dass sich Bildungsferne im Blut ablagert und nicht im Gehirn? Ich wage es zu bezweifeln.

Heute kann man nicht mehr sagen, dass man Türken einfach nicht mag, dass man sich an Kopftüchern stört und Döner nicht ausstehen kann. Man spricht von Integrationsunwillen, Frauenrechten und Gammelfleisch, oft nur mit stiller Verachtung als Hintergedanken. Andererseits wird man zum xenophoben Goebbels-Erben erklärt, wenn man importierte Sozialstrukturen aus Kleinasien und der Levante hinterfragt. Gibt es vielleicht vermehrt Erbkrankheiten, wenn man seine Kinder zwingt innerhalb der Familie zu heiraten? Sind Kinder vielleicht ungebildet weil ihre Eltern keine positive Einstellung zur Bildung haben? Aber: Gibt es dieses Problem vielleicht nicht nur bei Zuwanderern?

Deutschland schafft sich nicht selbst ab - manche werden erstaunt sein, dass ich jetzt nicht "leider" schreibe -, es ändert sich, so wie sich vieles ändert und manches gleich bleibt. Kinder werden heute nicht mehr verheiratet wie beim Adel im Mittelalter üblich, auch nicht als Erwachsene gegen ihren Willen. Man respektiert Menschen unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Man behandelt Frauen nicht wie minderwertige Menschen und Migranten nicht wie wandelnde Erbkrankheiten. Der Staat muss die Augen verschließen vor dem Etikett "Ausländer" und sie öffnen für den sozialen Hintergrund. Herkunft darf nicht länger ein Stigma sein, aber auch keine Ausrede mehr. Kritik darf kein versteckter Nazismus mehr sein und falsche Toleranz kein feiges Wegsehen.

Vor allem aber darf nicht zugelassen werden, dass irgendwelche Demagogen, aus welcher Partei sie auch kommen mögen, sich mit hirngespinstigen Ideen der Integrations-, Bildungs- und Sozialdebatte bemächtigen. Das Leben hat zu viele Facetten, Fragen und Probleme um sie alle auf eine komische Wendeltreppe aus Aminosäuren zu schieben. Die DNA macht uns verschieden, sie darf uns aber nicht trennen. Sie macht uns nicht zu Herren- und Unter-, sondern in erster Linie zu Menschen.