Josef Pröll hat Probleme mit einer Neunzigjährigen. Nein, es handelt sich nicht um eine Pensionistin, die sich um die Zukunft ihrer Rente im Zeitalter des „ökologisierten Steuersystems“ sorgt, sondern um die österreichische Bundesverfassung. Der Vizekanzler und Finanzminister sieht sich außerstande bis zum 22. Oktober dieses Jahres dem Nationalrat den Entwurf für ein Bundesfinanzrahmengesetz vorzulegen, wie es Art. 51 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) verlangt. Pröll rechtfertigt den offensichtlich wahltaktischen Schachzug – das zu erwartende Sparbudget sollte den Wahlkampf der Regierungsparteien in Wien und der Steiermark nicht beeinträchtigen – mit einer Schlupfklausel des Art. 51a B-VG, die die verspätete Budgetpräsentation bis spätestens 1. Dezember decken soll.
Die Opposition hat keine Möglichkeit ein Budget zu erzwingen, VfGH-Präsident Gerhart Holzinger kann die Wahrung des Gesetzes nur einmahnen und Bundespräsident Heinz Fischer gibt sich wie immer nachdenklich und zögerlich. Der österreichische Rechtsstaat und mit ihm die Verfassung steckt aber nicht erst seit dem ignorierten Ortstafel-Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes in einer Krise.
Die Bundesverfassung, genauer ihr Kerngesetz das B-VG, feiert am 1. Oktober den 90. Jahrestag ihrer Beschlussfassung durch die Konstituierende Nationalversammlung. Sie war von Beginn an ein typisch österreichischer Kompromiss: So wurde die Debatte über eine Präambel von vornherein ausgeschieden, da man sich, wie der christlichsoziale Abgeordnete und spätere Bundeskanzler Ignaz Seipel meinte, auf ein Vorwort ohnehin nicht hätte einigen können. Auf neue Grund- und Freiheitsrechte verzichtete man aus derselben Überlegung heraus. Man entschied sich kurzerhand für die Beibehaltung des Staatsgrundgesetzes von 1867 „über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“. Eines der ältesten europäischen Verfassungsgesetze die heute noch in Gültigkeit stehen. In den Beratungen zur neuen Verfassung setzte das rechte Lager die Schaffung eines Staatsoberhauptes durch, das linke dessen weitgehend repräsentative Rolle. Die Länder bestanden auf einer eigenen Parlamentskammer, die Sozialdemokraten wollte deren Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung infolge so gering wie möglich halten. Der Bundesrat wurde bewusst als politische Totgeburt geschaffen.
Dennoch hatten gerade die Länder mit der neuen Verfassung mehrere Erfolge erzielt: Zunächst wurde die Republik als Bundesstaat eingerichtet, für einen ehemaligen Zentralstaat keine Selbstverständlichkeit. Mit eigenen Parlamenten, Regierungen und Verfassungen schafften es die vormaligen Kronländer damit zu bundesverfassungsrechtlich anerkannten Teilstaaten. Die Tatsache, dass sich die Nationalversammlung in Wien für eine föderalistische Verfassung entschied, beruhte jedoch weniger auf einem überbordendem Dezentralisierungseifer der Abgeordneten, als vielmehr auf der realpolitischen Situation des Gesamtstaates nach dem Untergang der Monarchie. Während eine gemeinsame Vertretung der deutschsprachigen Gebiete Zisleithaniens neben dem Reichsrat als Vielvölkerparlament nicht bestanden hatte, konnten die neuentstandenen Bundesländer auf die Verwaltungsstrukturen der untergegangenen Kronländer und ihren Statthaltereien zurückgreifen. Dieser strategische Vorsprung sollte dem Zentralparlament selbst nach der ersten freien Wahl am 16. Februar 1919 noch zu schaffen machen. Während sich in Wien Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Großdeutsche wegen der neuen Verfassung in den Haaren lagen, hielten die Länder gemeinsame Konferenzen ab und erhöhten damit den Druck auf die Nationalversammlung. Diese hatte sich zwar schon drei Tage nach der Abdankung Kaiser Karls mit dem „Gesetz betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ vom 14. November 1918 bemüht den zentrifugalen Kräften entgegenzuwirken, musste aber weiterhin mit der ständigen Gefahr leben, die Länder könnten unter Umgehung von Staatsregierung und Parlament eine neue bundesstaatliche Verfassung ausarbeiten. Einen drohenden Staatszerfall ließen auch die Anschlussbestrebungen in Vorarlberg (das zur Schweiz wollte), Tirol und Salzburg (die eine Eingliederung nach Deutschland anstrebten) befürchten. Die Sezessionstendenzen in den Ländern wurden, ebenso wie ein gesamtösterreichischer Anschluss an die Weimarer Republik, durch den Friedensschluss in Saint Germain begraben.
Das Bundesstaatliche Prinzip, wie es im B-VG schließlich verwirklicht wurde, war ebenso eine Reaktion auf die realpolitischen Zwänge der jungen Republik, wie die Annahme der Friedensbedingungen der Alliierten. Seipel gab dies auch ohne Umschweife zu:
„In den Diskussionen (…) in der Öffentlichkeit und auch im Unterausschuss und im Verfassungsausschuss ist öfters die Frage erörtert worden, aus welchem Grunde wir uns eigentlich für den bundesstaatlichen Gedanken entscheiden müssen. (…) Ich gebe ganz gern zu, daß es vor allem auf die gegenwärtigen, wirklichen Machtverhältnisse im Staat ankommt. Die Verfassung kann nicht, am allerwenigsten in einer Zeit wie der unsrigen, ein Werk bloß theoretischer Erwägungen sein. (…) Man muß mit den Realitäten rechnen.“
Nicht nur die Sozialdemokraten und Großdeutschen waren dem Föderalismus von vornherein kritisch gegenübergestanden. Auch Hans Kelsen, häufig als Architekt der Bundesverfassung bezeichnet, hatte mit der Aufnahme des föderalen Prinzips in sein Auftragswerk nur wenig Freude. Er nannte die Länder „die rückständigste Institution der alten Monarchie“ und charakterisierte den Bundesstaat als „irrational, kompliziert und kostspielig.“ Dennoch vermittelte er den Ländern etwa den Kompromissvorschlag für die Beschickungsformel für den Bundesrat, die heute noch gilt.
Kelsens Herzstück aber war der, nach seinen Vorstellungen konzipierte Verfassungsgerichtshof, der weltweit erste seiner Art. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erkor er im Streit mit seinem deutschen Konterpart Carl Schmitt zur „Hüterin der Verfassung“. Sie war in der Tat eine der innovativsten Neuerungen die das B-VG hervorbrachte und wurde seitdem vielfach kopiert. Kelsen wurde sogar selbst Höchstrichter am VfGH, viel aber später einer politischen Umfärbungsaktion zum Opfer. Ihm verdankt das B-VG auch seine klare, schnörkellose Sprache. Kelsen lehnte als Verfechter Rechtspositivismus, dessen führender Exponent er war, selbst den Wortlaut des Art. 1 B-VG – „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ – ab. Er war ihm zu programmatisch. Karl Renner soll seinen Einwänden mit dem Satz begegnet sein:
„Herr Professor, Sie haben Recht, aber irgend etwas Schönes soll doch auch in der Verfassung stehen.“
Als geborener Jude musste Kelsen vor den Nazis fliehen und starb schließlich 1973 im Exil im amerikanischen Berkeley.
Das Bundes-Verfassungsgesetz, an dessen Entstehung neben Renner, Kelsen und anderen auch Michael Mayr und Robert Danneberg beteiligt waren, konstituierte Österreich zunächst als strikt parlamentarische Demokratie. Die Bundesregierung wurde durch den Nationalrat gewählt, der Oberbefehl über das Heer lag ebenso beim Parlament. Ihre präsidiale Komponente erhielt die Verfassung erst mit der Novelle von 1929 in der das erstarkende autoritär-rechte Lager die Regierungsernennung durch den Bundespräsidenten durchsetzte. Die sozialdemokratische Opposition bestand jedoch weiterhin auf der Verantwortlichkeit der Bundesregierung vor dem Nationalrat und verlangte die Direktwahl des Staatsoberhauptes, eine Bestimmung die zunächst ausgesetzt wurde und erst 1951 bei der Wahl Theodor Körners angewendet werden sollte. Doch auch die Umwandlung in ein semipräsidentielles System konnte die Verfassung letztlich nicht vor dem Putsch von oben retten, mit dem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß Parlament und Verfassungsgerichtshof beseitigte, um ein ständisch-autoritäres Regime als Konkurrenzfaschismus zur NS-Ideologie zu errichten. Seine neue Bundesverfassung ließ der Diktator am 1. Mai 1934 „im Namen Gottes des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht“ verkünden. Sie trat nie in vollem Umfang in Kraft und fiel – wie zuvor Dollfuß – den Nationalsozialisten zum Opfer, die Verfassungen als grundsätzliches Hindernis ihrer Politik ansahen.
Als Karl Renner nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes erneut eine provisorische Staatsregierung ins Leben rief, erklärte diese in Art. I der von ihr am 27. April 1945 erlassenen Unabhängigkeitserklärung, dass die Republik „im Geiste der Verfassung von 1920“ wiederherzustellen sei. Um sich eine langwierige Verfassungsdebatte zu ersparen, wohl aber auch aus Angst vor der zu erwartenden Einmischung der Alliierten, wurde das Bundes-Verfassungsgesetz mit geringen Abänderungen samt der Novelle von 1929 wieder in Kraft gesetzt. Was in der Ersten Republik nicht geglückt war, verwirklichte sich nach 1945 seltsamerweise auf dem Boden derselben Verfassung: Die Etablierung eines stabilen und demokratischen politischen Systems.
Seitdem hat sich das B-VG jedoch erfolgreich jeder tiefgreifenden Reform, sieht man vielleicht von den Änderungen im Zuge des EU-Beitritts ab, wiedersetzt. Besonders die Länder haben sich als notorische Blockierer erwiesen, nachdem sie seit 1920 kontinuierlich Kompetenzen einbüßen mussten. Verfassungsrechtler Heinz Mayer konstatiert dazu:
„Der Föderalismus ist in Österreich eigentlich vor allem dadurch wahrnehmbar, dass er sehr vieles verhindern kann, dass er aber sehr wenig selbst gestalten kann.“
Obwohl die Länder nach dem Wortlaut der Verfassung einer kompetenzrechtlichen Flurbereinigung nur sehr wenig entgegenzusetzen hätten, gibt ihnen die Realverfassung dennoch genug Möglichkeiten sich querzulegen. Diese Realverfassung macht sich überall dort bemerkbar, wo die Worte der Bundesverfassung den tatsächlichen Spielregeln des politischen Systems nicht entsprechen. Der Bundespräsident, verfassungsrechtlich ein potentiell mächtiger Player, gibt sich mit der Rolle des Landesvaters zufrieden, die Gesetzgebung findet realiter großteils im Ministerrat und nicht im Parlament statt, der Bundesrat ist ein parteipolitischer Appendix des Nationalrates und kein Vertretungsorgan der Länder. Dieses findet sich vielmehr in der Landeshauptleutekonferenz, einem informellen Gremium das in der Bundesverfassung mit keinem Wort erwähnt wird. Die „Landesfürsten“ sind es auch, die es verstehen in diesem Spannungsfeld zwischen verfassungsrechtlichen Vorgaben und politischen Interessen ihr gesamtes Gewicht innerhalb ihrer Parteien in die Waagschale zu werfen, um sich selbst nicht eines Tages in bedeutungslosen Positionen von Provinzgouverneuren wiederzufinden.
Das Kerngesetz B-VG ist, wie die Bundesverfassung insgesamt, in die Jahre gekommen und renovierungsbedürftiger denn je. Noch immer verfügt es über keinen eigenen Grundrechtskatalog, die Masse an Verfassungsrecht außerhalb des B-VG ist nach wie vor ebenso gigantisch wie unübersichtlich und die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern gleicht einem gordischen Knoten. Angesichts der Beharrungstendenz festgefahrener Verfassungsspielregeln, hat selbst der ehemalige Verfassungsgerichtshofspräsident Ludwig Adamovich jr. seinen Glauben an die seit Jahrzehnten projektierte und nie in Angriff genommene Verfassungsreform verloren:
„Als langjähriger Beobachter der Szene kann man da nur skeptisch sein. Sonst müsste man schon eine Parzivalnatur sein.“
Dabei liegen die Reformkonzepte schon seit Jahren auf dem Tisch, bislang hat es, so sind sich die Experten einig, nur am Umsetzungswillen der Politik gefehlt.
Die überfällige Generalüberholung des Bundesverfassungsrechts mag zumindest Josef Pröll zurzeit noch wenig beschäftigen. Solange die Opposition ob seiner Missachtung des Art. 51 B-VG schäumt, das Parlament zu Sondersitzungen einberuft und seinen Verweis auf das Budgetschlupfloch ungehört verhallen lässt, liegt das Dauerprojekt Verfassungs- und Verwaltungsreform wieder einmal auf Eis. Ob eine Regierung ohne Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, die keinen fristgerechten Bundeshaushalt vorzulegen vermag, eine solche Mamutaufgabe überhaupt stemmen kann, darf ohnehin bezweifelt werden. Bis die Mär von der Reform der Reformen eines Tages vielleicht doch noch Wirklichkeit wird, müssen wir uns mit der greisen Jopi-Heesters-Verfassung begnügen, die wir haben. Die Schlechteste ist sie ja doch nicht.
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