Samstag, 20. November 2010

Die Vorarlberger II., oder: Die Geschichte eines unbekannten Volkes.

Nachdem der letzte Blogeintrag relativ gesehen der erfolgreichste war (über 1600 Hits in fünf Tagen) und ich auch bisher keine Gelegenheit für Effekthaschereien unterlassen habe, lege ich nun eine Fortsetzung nach. Da der letzte Beitrag recht lang ausgefallen ist, wollte ich ihn nicht noch überdimensionieren. Weil aber immer noch ein paar Geschichten in meinem Kopf herumgeistern, die mir erzählenswert scheinen, konzentrieren wir uns heute auf die vernachlässigte Historie der Vorarlberger, mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert.

Die Alemannen
Wo beginnt man mit der Geschichte eines Volkes? Keine Hebamme hat den Geburtstag Vorarlbergs festgehalten. Nie wurde entschieden ab heute sind wir Vorarlberger. Im Zusammenhang mit Vorarlberg wird aber viel von Alemannen/Alamannen gesprochen. Also beginnen wird bei ihnen.

Keiner weiß wer sie waren und niemand weiß woher sie kamen. So fangen mysteriöse Geschichten an, die der Alemannen ist eine solche. So um das 3 Jh. n.Ch. dürften sie wohl da gewesen sein, wo wir heute sind. Vielleicht waren sie Sueben, Elbgermanen, vielleicht aber auch nicht. Im Allgemeinen rechnet man sie den Westgoten zu. Sie waren die unmittelbaren germanischen Nachbarn der Romanen, die man heute Franzosen nennt, weshalb Deutschland im Französischen Allemagne heißt. Das war's dann auch schon.
Natürlich haben die Alemannen kein Niemandsland übernommen. Im heutigen Vorarlberg lebten Romanen, die zurückgedrängt bzw. assimiliert wurden. Sie haben uns eine ganze Reihe von Flurnamen hinterlassen (Piz Buin, Bregenz, Vandans, Batschuns, Tschagguns, Montafon etc.). Ihre Sprache verschwand aus Vorarlberg spätestens im 11. Jh.
Das Beste was uns die Alemannen hinterlassen haben, ist die Fasnacht [dr' Fasching]. Wenn's danach geht, hätten sie von mir aus an der Elbe bleiben können.

Das finstere Mittelalter
Die Geschichte des mittelalterlichen Vorarlberg en Detail aufzurollen, wäre sowohl zäh als auch zu umfangreich. Es sei erwähnt, dass die Mönche Gallus und Columban das Gebiet des heutigen Vorarlberg missionierten, dass es schließlich zu weiten Teilen an die Monforter, einer Seitenlinie der Pfalzgrafen von Tübingen, fiel und dann Stück für Stück mit allen Gerichten, Reichgrafschaften, Reichshöfen und Unabhängigen Herrschaften (zuletzt Blumenegg 1804) an die Habsburger ging.
In den Appenzellerkriegen wurde das Rheintal verwüstet. Die aufständischen Bauern und Bürger wurden am 13. Jänner 1408 bei Bregenz durch ein Ritterheer geschlagen. Es war die letzte echte Revolution, an der die Vorarlberger teilnahmen - noch bevor es sie eigentlich gab. Mittlerweile ist das Land so reaktionär, dass man meinen könnte, es fürchtet sich immer noch vor den Blechhanseln der Habsburger.

Die Montafoner schließlich verschafften sich Anfang des 15. Jh. ihr Wappen mit den Schlüsseln Petri, als sie Papst Johannes XXIII. mit seiner Sänfte aus dem Klostertal trugen, wo die Pest wütete. Wer bei Johannes XXIII. an den milde lächelnden Konzilspapst Angelo Roncalli denkt, hat sich aber geschnitten. Die Montafoner erhielten ihr Wappen von einem ehemaligen Piraten, der es bis zum Gegenpapst gebracht hatte, auf dem Konzil von Konstanz - wohin er reiste - aber abgesetzt wurde und daher von der katholischen Kirche nicht offiziell gezählt wird. Das stört die Montafoner - die als verstolen gelten - heute nicht im Mindesten und man sollte sich diesbezüglich auch nicht mit ihnen anlegen. Sie haben auch nicht gezögert mit der Landesregierung in Bregenz einen regelrechten Kleinkrieg  zu führen, als diese per Verordnung aus dem Montafon ein Montavon machen wollte.

Im Dreißigjährigen Krieg wurde auch Vorarlberg arg in Mittleidenschaft gezogen. Bekannt ist  aus dieser Zeit die Sage vom Klushund, der den anrückenden Schweden für das goldene Kegelspiel im Hohenemser Schloss einen Schleichweg nach Bregenz preisgab und seither zur Strafe für seine sündhafte Tat im Rheintal als Geisterhund spuken muss. Der begegnet einem angeblich besonders in finsteren Nächten und vor allem dann, wenn man sternhagelvoll nach Hause torkelt. Heute sieht man Landesverrat etwas unprätentiöser und eher durch die Augen des Strafgesetzbuches, als durch den Katechismus. 
Eine andere Sage - wohl die einzige feministisch angehauchte des Landes - berichtet davon, dass die Frauen von Alberschwende den Bregenzerwald vor den Schweden gerettet hätten, weil sie von diesen wegen ihrer weißen Tracht für Engel gehalten wurden, als sie im Kriegsgeschrei und mit Heugabeln bewaffnet die Heimat und ihre feigen Ehemänner verteidigten. Ob die Schweden wirklich nur deshalb die Flucht ergriffen bleibt fraglich. [A wüaschts Wieb isch da beschte Zu ums Hus.] Es heißt auch, die Bregenzerwälderinnen hätten deshalb das Recht erhalten die Kirche an Sonntagen vor den Männern zu betreten. Heute sind die Wäldertrachten schwarz, warum weiß auch keiner. Auf die Gefahr hin, dass morgen eine Horde Wälderinnen vor meiner Tür steht: Vielleicht vom vielen Putzen?

Die Reformation
Was können wir eigentlich aus der Geschichte lernen? Mehr als nur das Offensichtliche? Dass Verfolgung und Völkermord keine erstrebenswerten Zustände sind, vermag jeder zu erfassen, der nicht Mitglied im kürzlich nach dem Verbotsgesetz aufgelösten Verein „Motoradfreunde Bodensee“ oder ein frustrierter Exlandesstatthalter ist.
Geschichte kann mehr, aber dabei oft nur Erklärungsversuche liefern. Ein Beispiel:
Warum gilt Vorarlberg als so viel konservativer als der Rest Österreichs?
Die Reformation hat Vorarlberg und Tirol nie wirklich erreicht. Sie waren immer katholisch, es sind die einzigen beiden Bundesländer die nie protestantisch waren. Von Salzburg ostwärts hat erst die Gegenreformation die Lutheraner hinweggefegt. Irgendwo scheint sich das im kollektiven Gedächtnis eingegraben zu haben. Man ist östlich von Tirol zwar katholisch, aber nicht ganz freiwillig. In Vorarlberg waren die Protestanten immer schon so gern gesehen wie später die Sozis.  Es gab bedeutende Anhänger der Reformation in Vorarlberg. Doch bevor ihr Glaube Tiefenwirkung erreichen konnte wurden sie verfolgt und mussten das Land verlassen. Otto Bismarcks Großmutter etwa, war eine vertriebene protestantische Feldkircherin. 
Als die Handvoll Lutherischen, die es hierzulande noch gab, nach den rechtlichen Möglichkeiten von 1861 eine Kirche errichten wollten, schickte das Land eine Abordnung zu Kaiser Franz Joseph nach Wien, um dies zu verhindern. Aber sogar die apostolische Majestät, der Kaiser und König, war liberaler als seine Vorarlberger Untertanen. Er lehnte das Gesuch ab.

Die Franzosenkriege - Vorarlberg wird Vorarlberg
Etwas standfester verteidigten sich die Vorarlberger in den Franzosenkriegen. Napoleons Truppen erreichten Feldkirch in den späten Märztagen des Jahres 1799. Die Landwehr setzte den Franzosen erheblichen Widerstand entgegen [net lug lå] und besiegte sie in der Schlacht am Margeretenkapf am 23. März. General André Masséna musste sich der Taktik der Verteidiger (Tür auf - rausschießen - Tür zu) geschlagen geben und zog sich schließlich zurück. Die Stadt fiel erst am 14. Juli 1800 im erneuten Ansturm der Grande Armée.

Da waren die Vorarlberger dann auch schon Vorarlberger. Der Begriff ist nur ca. 230 Jahre alt und - das wurmt so manchen Superalemannen sicher - eine Fremdschöpfung aus Wien. Zumindest nimmt er aber Bezug auf die Sichtweise der Habsburger und befindet sich daher von deren Stammburg im Aargau gesehen vor dem Arlbergpass. Im Übrigen gibt es gar keinen Arlberg, nur den Pass, was ich persönlich ziemlich dämlich finde. Der Pass wiederum hat seinen Namen von einem Latschengewächs, den Arlen (lat. arula, weshalb Vorarlberg neo-latinisiert auch Cisarulana heißt). Da sich Vorarlberg aber dann doch besser macht als Hintermlatschenpassland, wollen wir es so belassen

Nach Napoleons Willen gingen Vorarlberg und Tirol an das mit Frankreich verbündete Bayern. So unangenehm die Besatzung für die Franzosen in Tirol gewesen sein muss, die Vorarlberger saßen die Sache zunächst lieber aus. Nur 1809 versuchten sie die Bayern rauszuschmeißen, unterlagen aber und mussten sich fügen, bis sie nach der napoleonischen Niederlage 1814 wieder vom geliebten Wien aus verwaltet wurden.

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit
Eine Hungerskatastrophe (1816-17) und ein paar Kriege später finden wir uns mitten im großen Völkergemetzel von 1914 bis 1918. Auch Vorarlberg hat tausende Soldaten am Isonzo, in Galizien und in der Bukowina für Gott, Kaiser und Vaterland verloren. Als der Krieg schließlich vorbei war und der Kaiser das Land verlassen musste, empfing ihn am Bahnhof Feldkirch eine laternisierte Strohpuppe [ufghängt honses] in K&K Uniform. Ob sich Eximperator Karl auch durch diese liebevolle Abschiedsgeste einiger sozialdemokratischer Eisenbahner zu seinem Feldkircher Manifest veranlasst sah, ist nicht überliefert. Jedenfalls verteufelte er darin die neue Staatsregierung und verließ Österreich in Richtung Schweiz. Das Kapitel Monarchie war damit auch für Vorarlberg beendet. Der Kaiser sah Österreich nie wieder.

Die eher ungloriösen Anschlussbestrebungen Vorarlbergs an die Schweiz habe ich hier schon einmal behandelt (Vorarlberg zur Schweiz? Oder: Kein Anschluss unter dieser Nummer). Dass sie nicht erfolgreich waren, sehen alle Vorarlberger heute in ihrem Pass. Dass es diesbezüglich immer noch ein paar Nostalgiker gibt, halte ich für unangebracht. Nach herkömmlicher Ansicht ist Nostalgie keine Vorarlberger Wesensart, weil nicht gewinnbringend.

Dass in der Zwischenkriegszeit die Christlichsozialen [d' Schwarza] das politische Vorarlberg dominierten wird niemanden überraschen. Jodok Fink (Bauer aus Andelsbuch und Vizekanzler) und Otto Ender (Landeshauptmann, Bundeskanzler und Experte für Verfassungsautokratie) sind immer noch Ikonen des Vorarlberger Konservativismus. Katholischer als der Papst und schwärzer als die Nacht gehörten auch der Antijudaismus [Hass uf d'Religion] bzw. Antisemitismus [Hass uf s'Volk] zu den Überzeugungen der Vorarlberger Christpolitiker:

Ender, Autor der austrofaschistischen Verfassung


„Der Jude wird nie ein Deutscher […]. Er ist und bleibt eben Jude und sollte von rechtswegen Bürger nur sein in Jerusalem.“ Otto Ender




Die Ausschaltung von Demokratie und Verfassungsstaat durch den Austrofaschismus juckte in Vorarlberg nur die Wenigsten. Aufgrund des akuten Mangels an Sozialdemokraten [d' Rota] musste man nicht einmal den Ausnahmezustand verhängen.

Die NS-Zeit
Die Nazis [d' Arschköpf] unterwanderten daraufhin auch in Vorarlberg die austrofaschistische Sammelbewegung „Vaterländische Front“. Das braunste Nest war Dornbirn. Die dort ansässigen Textilunternehmer sahen im Deutschen Reich einen enormen Absatzmarkt und förderten dementsprechend die illegalen Nazis. Nach dem Krieg wurden sie besonders weich entnazifiziert und blieben in Amt und Funktion. Dass die Dornbirner Messe nach dem Krieg in Dornbirn und nicht in Feldkirch angesiedelt wurde, ist etwa das Ergebnis alter brauner Seilschaften.

Für das Land kam mit dem Anschluss das Ende jeder Selbständigkeit. Vorarlberg wurde an Tirol angegliedert. Von den jüdischen Vorarlbergern überlebten die Nazizeit nur wenige.
Die Behörden des Ständestaates hatten bereits 1936 begonnen Listen anzufertigen die Personen nach dem Muster der Nürnberger Rassegesetze als Juden auswiesen. Eine solche Liste für die Einwohner von Bregenz wurde daraufhin der NS-Zeitung „Tagblatt“ zugespielt und von dieser mit der Forderung nach einer „Lösung der Judenfrage“ veröffentlicht. Im Kleinen Walsertal, das deutsches Zollanschlussgebiet war, war bereits 1937 jüdischen Personen von Gastwirten und Behörden der Aufenthalt verwehrt worden. Zum Zeitpunkt des Anschlusses zählte die jüdische Gemeinde von Hohenems 27 Mitglieder. Insgesamt wurden 1938 in Vorarlberg 104 Personen als Juden oder „Mischlinge“ eingestuft. Manche von ihnen wurden nach dem Anschluss sofort enteignet und deportiert, andere zunächst sukzessive aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen oder nach Wien zwangsumgesiedelt. Dadurch wurde Vorarlberg 1943 als „judenfrei“ erklärt. Als erster jüdischer Vorarlberger starb Alois Weil aus Hohenems noch 1938 in Dachau. Der Tod von 15 jüdischen Vorarlbergern gilt als geklärt, der Verbleib etlicher anderer ist bis heute unklar.

Nachdem die überlebenden Mitglieder der Kultusgemeinde in Hohenems auch nach 1945 wiederholt antisemitischen Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt waren, 1949 wurden Scheiben von jüdischen Häusern eingeschlagen und die Vorarlberger Nachrichten veröffentlichten antisemitische Artikel, verließen 1954 die letzte jüdischen Bewohner Hohenems. Ein Herr Egger [dr' klenne Emser mitam manischa Lächla] spielt mit seinen Sprüchen auf einer alten Vorarlberger Geige.

Als der Krieg schließlich nach Vorarlberg kam, wurde es nicht verschont [Håsch wealla, schleacksch d' Kella]. Feldkirch wurde am 1. Oktober 1943 bombardiert, weil Augsburg nicht angeflogen werden konnte und man Lazarette und Schulen für Kasernen hielt. Etwa 200 Menschen verloren ihr Leben. An der Front fielen etwa 8.000 Vorarlberger oder blieben verschollen. In den letzten Kriegstagen rückten die Franzosen aus dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg kommend in Richtung Vorarlberg vor. Für Bregenz war der Versuch gescheitert es zur offenen Stadt zu erklären, da es einen Durchzugspunkt zum Arlberg bildete und der zuständige Generalfeldmarschall Kesselring sich weigerte diesen räumen zu lassen. Daher wurde die Stadt am Abend des 30. April 1945 von französischen Einheiten unter Beschuss genommen. Dieser wurde am darauffolgenden Tag durch Tiefflieger fortgesetzt. Durch den Beschuss von Bregenz wurden zwei Zivilpersonen getötet sowie 72 Häuser zerstört und dadurch 700 Menschen obdachlos. Bregenz verdankt diesem Beschuss den wunderschönen Parkplatz am Seeareal. Die Franzosen wurden schließlich von Bregenzer Bürgern über Schleichwege in die Stadt geführt und vertrieben die dort verbliebenen deutschen Verbände. Ich bin mir relativ sicher, dass von diesen Bregenzern keiner als Klushund streunen muss.
Wehrmacht und SS zogen sich infolge unter kleineren Scharmützeln bis zum 6. Mai zum Arlberg zurück, den die meisten schließlich überquerten und sich den Amerikanern ergaben.

Voralberg und das braune Gedankengut
Nach dem Krieg wurden in Vorarlberg etwa 20.000 ehemalige Nazis registriert, das waren damals ca. 9% der Landesbevölkerung. Die Entnazifizierung der französischen Besatzung galt als die sanfteste. So mancher Vorarlberger profitierte davon und machte weiterhin Karriere. Ein Beispiel hierfür ist die Laufbahn des Dornbirner Industriellen Rudolf Hämmerle, der zwar einerseits Stadtrat der „Vaterländischen Front“, andererseits aber auch Unterstützer der illegalen Nationalsozialisten gewesen war. Von 1939 bis 1945 saß er für die NSDAP als „Ratsherr“ erneut im Dornbirner Rathaus, war dort ab 1950 wieder Gemeindevertreter für die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und saß von 1962 bis 1970 für diese im österreichischen Nationalrat. 

Die Landeseigene Geschichtsschreibung machte sich sofort daran das Geschehene zu relativieren. Die Vorarlberger NSDAP-Mitglieder wurden zu „guten Nazis“ umfunktioniert. Die Tatsache, dass Vorarlberg beim Anschlussplebiszit 1938 mit „nur“ 98, 1% die schlechteste Zustimmungsquote aller Bundesländer hatte, wurde als Beweis der alemannischen Zurückhaltung hochstilisiert. Die Bösen waren die anderen. Benedikt Bilgeri etwa schrieb in seinem Band „Geschichte Vorarlbergs V.“:
„Es ist aber durch Erfahrung erwiesen, daß dem Vorarlberger, seiner Art entsprechend, Gewalt wesentlich weniger liegt als vielen Deutschen und Österreichern. […] Die hysterische Hitler-Raserei der Ostmärker nach dem 13. März 1938 (,stolz sein ein Deutscher zu sein‘ bei jeder Gelegenheit) machte selbst die deutschen Parteigenossen betroffen, für den Vorarlberger war sie abstoßend. […] Ohne jeden Zweifel war es die geschlagene, zum Schweigen gezwungene Mehrheit, die sich an diesen Tagen in den Häusern versteckte oder nach Möglichkeit in Ried und Wald verschwand. Wehrlos aber gefaßt, erwarteten sie die hinterhältigen Überfälle der SS[…].“
Sollte jemandem von den Vorarlbergern jetzt statt Schamesröte ein Heiligenschein wachsen, lege ich ihm beflissentlich den historischen Schundroman Elmar Grabherrs ans Herzen (Grabherr, Elmar: „Vorarlberger Geschichte“, Bregenz: E. Ruß & Co. 1986.). Grabherr war wie Hämmerle ein Mustervorarlberger seiner Zeit. Er arbeitete für die Christlichsozialen, die Austrofaschisten, die Nazis und die ÖVP. Grabherr wechselte kurz vor Kriegsende zum „Widerstand“, war Sekretär des provisorischen Landesausschusses und schließlich als Landesamtsdirektor der oberste Landesbeamte Vorarlbergs. Grabherr war gefürchtet. Als einen der fachlich fähigsten Beamten seiner Zeit wollte man ihn nicht gegen sich haben. Seine Geschichtsklitterung veröffentlichte er 1986 nach seiner Pensionierung. Er war ein Anhänger des Panalemannismus [alle Alemanna in oan Staat] und sah die übrigen Österreicher mehr oder minder als Untermenschen. Dass er dieses Denken während der NS-Zeit noch in ganz andere Bahnen gelenkt hatte, verschwieg Grabherr später lieber:
„Es ist auch nicht mehr als recht, dass endlich auch mit den Juden abgefahren wird, die mit Ariern verheiratet sind, und deshalb bisher geschont wurden, denn es entspricht dem gesunden Volksempfinden, dass für die von den jüdischen Führern in Moskau, London und Washington gegen unsere Krankenhäuser und Wohnviertel begangenen Gräuel unsere Juden zur gesamten Hand haften. Dass es dabei im Einzelfall harte Szenen geben musste, ließ sich nicht vermeiden. Wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne.“
Grabherrs Evolutionslehre in einer Karikatur von Dieter Zehentmayr
Zu Grabherr gibt es mittlerweile eine Biographie, die recht fundiert sein dürfte. Was man dort vermutlich nicht findet, ist eine pikante Nebengeschichte. Ich erzähle sie weniger aus Tratschsucht, als aus dem Wunsch die Verlogenheit seiner Zeit aufzuzeigen: Elmar Grabherr war schwul [håt gschwizerlat]. Wie das mit solchen Dingen ist, weiß es jeder, nur halt nicht offiziell. Selbst Landeshauptmann Ilg wusste es. Ilg war Bauer und verließ sich in juristischen Dingen blind auf Grabherr [håt sich seal ned uskennt]. Ilg war aber auch Konservativer und konnte einen unverheirateten Landesamtsdirektor nicht dulden. Man suchte daher für Grabherr eine alte Jungfer, die man sonst nicht mehr angebracht hätte [an wüaschta Schmealg]. Es wurde geheiratet, der Landeshauptmann war zufrieden. Grabherr und seine Frau lebten in getrennten Wohnungen, dem öffentlichen Bedürfnis nach dem schönen Schein war Genüge getan.






  LH Ilg [mit Bärtle, isch abr koan Nazi gsi. Nur hüråta hot ma müassa.] 

Waren die Vorarlberger nun bessere oder schlimmere Nazis? Sie waren die gleichen Nazis wie die anderen auch. Josef Vallaster aus Silbertal tötete als SS-Angehöriger in Hartheim und Sobibòr. Vorarlberger haben auf verschiedene Weise Schuld auf sich geladen. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Vorarlberger Juden Vorarlberger waren, ebenso wie Provikar Karl Lampert, den die Nazis als ranghöchsten katholischen Geistlichen ins KZ steckten und ermordeten. Vorarlberg war in Sachen Nationalsozialismus wie Restösterreich ein Land von Verrätern und Verratenen. Nicht mehr, nicht weniger.

Die weitere Nachkriegsgeschichte
Nach dem Krieg beschränkte sich die Vorarlberger Landesgeschichte hauptsächlich auf die Auswüchse des Kampagnenjournalismus der Vorarlberger Nachrichten. Protest gegen das Atomkraftwerk Rüthi, Protest gegen das Bodenseeschiff Karl Renner, Protest gegen Wien mit Pro Vorarlberg. Die Bilanz war durchwachsen: Das Atomkraftwerk in Rüthi wurde nicht gebaut, wohl weniger wegen der anhaltenden Gegenstimmen aus Vorarlberg, als wegen der Antipathie der lokalen Schweizer Bevölkerung. Das Bodenseeschiff heißt heute Vorarlberg, weil die VN es vermochten ein Zehntel der Vorarlberger in die Werft nach Fußach zu beordern, um Verkehrsminister Probst mit Tomaten und tollen Slogans („Obst für Probst“) zu erwarten. Karl Renner war als sozialdemokratischer Ostösterreicher praktisch die verkörperte Nemesis des konservativen Durchschnittsvorarlbergers. Ein Bodenseeschiff nach ihm zu benennen war daher ein mehrfaches „no go“ [gåt ned] (siehe hiezu auch obig erwähnten Artikel). Auch die Sache mit Pro Vorarlberg ging mehr oder minder in die Hose. Wien lehnte Verhandlungen über eine erweiterte Autonomie für Vorarlberg schlichtweg ab. Als Volk, das gerade einmal 4,4% der Gesamtstaatsbevölkerung ausmacht, hat man auch keine sonderlich starke Verhandlungsposition.

Wo steht Vorarlberg heute? Da wo es immer war. Zwischen Rhein und Arlbergpass, zwischen Piz Buin und Bodensee. Wenn Konservativismus und Reaktion einen positiven Nebeneffekt haben, dann ist es Beständigkeit. Auf Vorarlberg ist verlass, im Positiven wie im Negativen. Das beruhigt die Nerven ungemein.

Montag, 15. November 2010

Die Vorarlberger, oder: Das unbekannte Volk.

Oğuz "Mike" Galeli ist der Sohn türkischer Einwanderer. Er sitzt bei Stermann und Grissemann im Studio von "Willkommen Österreich" und erzählt von seiner Film- und Fernsehkarriere in der Türkei. Hin und wieder holpert sein Hochdeutsch, manchmal fehlen ihm die richtigen Vokabeln. Kein Wunder: Galeli ist Vorarlberger.

Vorarlbergerisch als einheitliche Sprache gibt es dabei eigentlich ebenso wenig, wie es Deutsch [Dütsch] gibt. Jeder spricht es anders. Oft findet man schon über dem nächsten Hügel, im nächsten Dorf wieder einen anderen Dialekt. Heißen Mädchen hier Moatla, heißen sie dort Schmealga und anderswo Meigena. Mike Galeli etwa lebt in Feldkirch, aber wenn er spricht hört man genau, dass er aus dem Unterland stammt.

Sie werden also nie Vorarlbergerisch als Idiom [Språch] lernen können, außer der Landtag [d' Politkr z' Breagaz] beschließt eines Tages die Erhebung zur eigenständigen Schriftsprache. Manche Varianten (wie Oberländerisch) können für Sie - als Nichtvorarlberger [Frönde] - durchaus verständlich werden, während Sie von anderen (Lustenauerisch, Wälderisch) besser gleich die Finger [d' Griffl] lassen sollten. Ein Satz der in Feldkirch noch "Geschtan håt mi Moatle min Tschoper am Klo mit nara Sicherheitsnådl gflickt." heißt, kommt im Bregenzerwald mitunter als "Hinat håt min Schmealg min Tschopar am Löüble mit nar Gulfo gflickt." Wenn Sie beim ersten Versuch folgendes verstanden haben: "Gestern hat mein Mädchen meine Jacke am Klo mit einer Sicherheitsnadel geflickt." sind Sie gut, sollten sie auch zweiteres verstehen, sind Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst Wälder. Die genießen spätestens seit "Vo Mello bis ge Schoppornou" den Pathos des Unverständlichen. Ähnliches haben auch die Lustenauer, zumindest auf lokaler Ebene, und auf eher ausfallende Weise erreicht: Ende. Riedmann.

Wenn Sie als Ostösterreicher (meine Wortschöpfung "Össi" will und will sich nicht einbürgern) einen Vorarlberger mit einem Landsmann sprechen [schwätza] hören und ihn verstehen, dann sind Sie Philologe oder er ein schlechter Vorarlberger. Glauben Sie bitte bloß nicht, dass Sie ein Genie sind, wenn ein Vorarlberger mit Ihnen spricht und Sie ansatzweise mitbekommen, was er Ihnen sagen will. Nur weil man eine Nerzträgerin, die man in Wien wohl großkopfert nennen würde, Sätze wie "...und dann hab' ich zu ihm g'sagt, dass er heut' kein Küchle mehr kriegt, weil er sonst wieder Bauchweh hat, wie er's schon beim letzten Mal g'habt g'habt hat." sagen hört, heißt das nicht, dass Sie sich jetzt als Völkerversteher sehen dürfen, sondern nur, dass Sie soeben einer gestopften Oberschichtlerin [a gealdigs Wieb] von jenseits des Arlbergs [vu vorm Arlberg] begegnet sind. Kommt sie aus dem Unterland (Rheintalgebiet nördlich des Kummenbergs) spricht sie Bödeledütsch, ist sie Oberländerin (aus dem Rheintal südlich des Kummenbergs) redet sie Ganahldütsch. Klingen tut das genau gleich beschissen, aber die Herkunft der Bezeichnungen ist unterschiedlich:

Das Bödele ist ein Berg bei Dornbirn, auf dem man neben heidelbeerenpflücken auch schifahren kann und das einen Namen hat, der so Vorarlbergerisch ist, dass selbst die Herrn Geodäten [ d' Landvrmeasser] aus Wien wohl keinen germanisierenden Namen dafür fanden und so wurde aus dem Bödele kein Lauterach [Lutrach] und kein Satteins [Sattaas]. Auf eben dieser Erhebung haben sich in alten Tagen etliche G'stopfte ihre Residenzen errichtet und weil es in dieser Zeit modern war, nicht wie der Rest der Leute zu sprechen, bemühte man sich nach Möglichkeit sich auf Hochdeutsch zu unterhalten. Ergebnis war das Bödeledeutsch.

Ähnliche Probleme hatte die Familie Ganahl, eine der größten Unternehmerfamilien des Landes, die in Feldkirch eine Textilfabrik betrieben. Man wollte sich als reiche Sippschaft nicht mit den weniger begüterten Leuten [d' Lüt] rundherum verheiraten [hüråta], also suchte man für die Söhne in der Ferne und fand ein paar  Damen, die mit dem lokalen Sprachkolorit so gar nicht zurechtkamen. Man einigte sich familienintern auf Ganahldeutsch, das auch bei der restlichen Möchtegernoberschicht bald Anklang fand.
So ist es g'wesen und deshalb wird heut' bei den Leut', die was ein bisserle ein Geld haben oder früher mal eins g'habt haben, so geschwetzt...

Wenn aber ein Vorarlberger mit einem Wiener spricht, fällt ihm oft nichts anderes als Ganahl-/Bödeledütsch ein. Das heißt noch nicht automatisch, dass er sich zu den "Besseren" zählt. Auf die Moderatorenfrage, ob es einen türkisch-vorarlbergerischen Soziolekt gebe, rutscht Mike Galeli sinngemäß der Vorarlbergerische Satz "Na, gits ned." heraus. Man merkt, dass Galeli zu Hause nicht das gequälte Bödeledütsch spricht, in dem er heute parlieren muss. Fassen Sie diese Sprachmutante also bloß nicht als Dialekt auf. Es ist oft die bloße Unfähigkeit österreichisches oder sonst irgendein Hochdeutsch zu sprechen. Diese manifestiert sich etwa darin, dass an so manchem Vorarlberger Gericht auf Dialekt verhandelt werden muss, oder dass mancher Vorarlberger in Deutschland auf Englisch bedient wird, obwohl er in seinem feinsten Deutsch bestellt hat.
Dennoch sind wir kein Haufen sprachbehinderter Talbewohner. Und auch wenn es die A1-Werbung behauptet: Wir reden nicht alle soooooo unverständlich.

In ihrer Unfähigkeit verwechseln jedoch manche Ostösterreicher Vorarlberger mit Schweizern [d' Schwizr], was einen mittelgroßen Fauxpas darstellt. Die Vorarlberger sind nämlich - entgegen anderslautender Stereotype - nicht nur gut auf die Schweizer zu sprechen. Nicht umsonst heißt schwizerla übersetzt sich homosexuell betätigen. Vorarlbergerisch hat einen völlig anderen Sprachfluss als das Scheizerische, es ist weniger abgehackt-hektisch, Verniedlichungen werden nicht auf -li, sondern auf -le gebildet und Vorarlberger sprechen K-Laute nicht mit ch aus. Es heißt also Hüsle nicht Hüsli [Häuschen] und Kuchekaschta nicht Chuchechaschte [Küchenkasten]. Schreiben Sie sich's hinter die Ohren!

Natürlich kann der sprachliche Unterschied mitunter auch zu steil aufgestellten Augenbrauen [ufgschtellte Ogabrua] führen. Daher seien Ihnen einige potentielle Missverständnisse hiermit erleutert: Was Vorhut in Vorarlberg bedeutet, hängt davon ab, ob man das u lang (dann wie im Deutschen) oder kurz betont (dann im Deutschen durch au ersetzten), wenn ein Vorarlberg schoa sagt, meint er nicht den Holocaust, sondern will sich etwas ansehen [schauen], tür kann sowohl Türe, als auch teuer bedeuten, mir heißt wir, ma heißt mir, schießen heißt schüßa aber schießa bedeutet defäkieren und wenn Vorarlberger bei Erzählungen an jeden Satz ein odr anhängen, ist das eine rethorische Affirmationsaufforderung, Sie müssen nicht wirklich mit ja oder nein antworten. Außerdem neigt der Vorarlberger dazu Hilfszeitwörter und Personalpronomen an Substantive anzuhängen bezw. verkürzt voranzustellen. Håschd heißt also schon hast du/du hast. Der bestimmte weibliche Artikel wird auf d' verkürzt (z.B.: d' Wiebr = die Damen), der sächliche reduziert sich auf s' (s' Gsindl = die Nichtvorarlberger). Nur der männliche bestimmte Artikel - sie merken schon, Vorarlbergerisch ist eine sympathische Sprache - hat es verdient zwei Buchstaben zu tragen (da/dr Ma = die Krone der Schöpfung).

Vorarlberger trennt aber nicht nur die Sprache scheinbar vom Rest Österreichs. Sie sind auch charakterlich verschieden. Auch wenn sie es nie zugeben würden, die Nichtbeachtung, mit der sie der Großteil der Österreicher straft, schmerzt sie schon ein bisschen. Vom Standpunkt der Restösterreicher aus ist das Ländle vorm Berg wahrscheinlich das am wenigsten besuchte Bundesland. Jeder hat es schon mal nach Tirol geschafft, aber so mancher Wiener kennt Vorarlberg - wenn überhaupt - nur von der Durchfahrt in Richtung Schweiz. Geben Sie sich also einen Ruck und besuchen sie uns. Wir sind zwar laut einer jüngst veröffentlichten Studie das am wenigsten lächelnde Völkchen Österreichs, aber wenn sie ein paar Doppler mitbringen, kann sich das schnell ändern. Gut, wir sind etwas unterkühlt, aber lassen Sie sich auch nicht von Tatsachen ablenken. Dass man auf Vorarlbergerisch nicht ich liebe dich sagen kann (i ha di gerra bzw. i mag di ist das höchste der Gefühle), ist zwar weniger auf sprachliche, sondern als vielmehr auf kollektivcharakterliche Ursachen zurückzuführen, aber wir sind keine Kostverächter. Zugegeben, grundsätzlich sind Vorarlberger nicht sonderlich emotionell. Sollten Sie bei mir einen gewissen Unterschied feststellen, schieben Sie's getrost auf meine steirische Hälfte. 
Schon der - jüngst im ORF gezeigte - Dialog eines Lustenauer Enkels mit seinem Großvater spricht dazu Bände: 

"Opa, was hoaßt [heißt] etz [jetzt] 'Ich liebe dich' uf [auf] Vorarlbergerisch?"
"I mag di.[Ich mag dich.]"
"Jo [Ja], isch [ist] des [das] ned [nicht] a kle [ein bisschen] wenig?"
"Na, es langt. [Nein, das genügt.]"

Wir sind aber sicher kein liebloses Volk, wir sind nur keine Amore-amore-Italiener und keine Na-wie-schau-ma-aus-Hasi-Wiener. Für den Vorarlberger sind Gefühle wie Geld: Sie behalten sie lieber für sich.

Was uns schon zum zweiten Stereotyp über die "Gsiberger" (Liebe Össis: Lassen Sie das, wir finden es nicht lustig.) führt: Sie gelten als sparsam [kluppig] bis geizig [kripfig]. Erfahrungsgemäß kann ich Ihnen das bestätigen. Sparsamkeit ist dem Vorarlberger ebenso wie Fleiß ein ethnisches Bedürfnis. Die Thematik lässt sich am besten mit dem Satz "Mei, scho schö, abr so tür!" ausdrücken, mit dem Vorarlbergerinnen mitunter sogar Schuhe ins Regal zurückgestellt haben sollen. Die Verschwendungssucht ist daher auch etwas, das man Wien gerne vorwirft. Daran sind dann auch nur die Sozialdemokraten schuld. Nimmt man ein Wahlzuckerl von der SPÖ, kann man mitunter den Satz "I han scho gseaha, dass du den Sozibålla gnå heasch." vernehmen. Die Wiener Gemeindebauten waren für die Vorarlberger Presse jahrzehntelang nur "Wohnbaubolschewismus".

Damit haben wir auch schon das nächste Klischee auf dem Tablett. Vorarlberger sind stockkonservativ. Ein Beispiel: In Österreich ist Sittenpolizei Landessache. Da man im katholischen Vorarlberg nichts Unzüchtiges sehen möchte, ist in Vorarlberg Prostitution [Ummahurarei] grundsätzlich verboten, außer in Bordellen. In § 11 Abs. 1 des Vorarlberger Sittenpolizeigesetzes wird - um den öffentlichen Anstand nicht zu gefährden - das Verbot für die Bewerbung von Bordellen verhängt:

Ankündigungen und Werbeanlagen jeder Art, einschließlich Schaukästen, die einen Hinweis auf die Benützung eines Gebäudes zum Zwecke gewerbsmäßiger Unzucht enthalten, sind verboten.

In Österreich darf man mit 16 rauchen, trinken, wählen und mit 18 einen Porno drehen, aber in Vorarlberg darf man erst mit 19 der Prostitution im Puff nachgehen. Gottseidank stellt sich diese Frage ja ohnehin nur theoretisch, denn in Vorarlberg gibt es kein einziges Bordell, womit Prostitution de facto ausnahmslos illegal ist. Das Land verbietet Puffs zwar nicht, aber es bewilligt auch keine. Dafür sorgen schon § 6 Abs. 4 und Abs. 5 Sittenpolizeigesetz:

Das Gebäude darf nicht in einem mit Wohngebäuden dicht bebauten Gebiet oder in der Nähe von Kirchen, Friedhöfen, Krankenanstalten, Schulen, Kindergärten, Kinder- und Jugendspielplätzen, Jugendheimen u.dgl. liegen.
Es muss Gewähr bestehen, dass durch den Betrieb des Bordells die Nachbarschaft nicht unzumutbar belästigt wird oder sonstige öffentliche Interessen, insbesondere solche der Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der Gesundheit, des Jugendschutzes und des Fremdenverkehrs, nicht verletzt werden.

Wer einmal in Vorarlberg gewesen ist, wird wissen, dass Sie solch einen Ort dort nicht finden können. Bei über 370.000 Einwohnern, von denen sich allein 2/3 im dicht besiedelten Rheintal drängeln und den zwar weniger dicht bewohnten, aber dafür touristisch genutzten Bergregionen, wird ein Bordell - besonders nach alemannischer Moralauffassung - immer Anstoß erregen.
Aber das scheinheilige Bordellwesen (im Rheintal gibt es genügend Geheimpuffs und Straßenstriche) ist nicht das einzige Beispiel Vorarlbergerischer Prüderie. Um den letzten Funken an Unzüchtigkeit schon im Keim zu ersticken, bestimmt nämlich § 2 Abs. 1 besagten Gesetzes:

Das öffentliche Baden (Wasser-, Luft- und Sonnenbaden) ist, soweit im Folgenden nichts anderes bestimmt ist, nur in üblicher Badekleidung gestattet.

Großzügiger weise gilt dies nicht für Kinder unter 6 Jahren und die Gemeinden dürfen Ausnahmeplätze bestimmen - tun es aber natürlich nicht/kaum. Auch Saunabetreiber haben noch einmal Glück gehabt. Im Dampfbad darf der Vorarlberer nackt sein, wenn auch der Betreiber nach Geschlechtern getrennte Sauniermöglichkeiten anbieten muss.

Mit diesem Ausflug in die Vorarlberger Sittlichkeit würde ich das Vorhandensein katholischer Weltanschauung - in Landesspitälern dürfen Abtreibungen nicht vorgenommen werden - als empirisch bestätigt ansehen. Das hat in der Vergangenheit zu allerlei Seltsamkeiten geführt. So war in Vorarlberg lange Zeit das Swingtanzen verboten, weshalb die Bodenseeschiffahrt Tanzabende in internationalem Gewässer anbot. Der Herr der Ringe Film startete in Vorarlberg - weltweit einzigartig - eine vierten Stunde früher, weil Lichtspiele hierzulande nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit vorgeführt werden dürfen, die der Film sonst wegen Überlänge überschritten hätte. Also doch kein Klischee, das mit dem Konservativismus...

Halten Sie nun aber bitte nicht nur Schlechtes von uns. Wir sind gute Leute. Unverständlich sprechende, prüde und emotional eingeschränkte Sozialistenfresser, aber gute Leute. Sie finden bei uns 1a Architektur, tolle Festspiele, super Kräne und Lifte (viva Firma Doppelmayr), super Textilien (Wolff etc.), gute Säfte (Rauch, Pfanner), schmackhaften Käse (Rupp etc.), unkaputtbare Beschläge (Blum) und extrem helle Leuchten (Zumtobel). Wenn Sie den braven und fleißigen (Schaffa, schaffa Hüsle baua.) Vorarlbergern nun also doch zugeneigt sind, tun sie uns und sich zwei Gefallen:

1. Schicken sie den Holstuonarmusigbibbandclub mit "Vo Mello bis ge Schoppernou" nach Düsseldorf zum Songcontest. Seit man nicht mehr in der Landessprache singen muss, dürfte das kein Problem sein.

2. Versuchen Sie Vorarlbergerisch zu verstehen, aber nie es zu sprechen. Es klingt einfach lächerlich. Von allen Nichtalemannen die ich kenne, kann nur die gute Kathi richties Vorarlbergerisch und auch das nur wenn sie betrunken ist. Außerdem schädigt Vorarlbergerisch ihre muttersprachlichen Fähigkeiten. Der arme Mike Galeli etwa musste, als er mit seiner Filmkarriere in der Türkei begann, erst jahrelangen Türkischunterricht nehmen um dort verstanden zu werden.

Samstag, 6. November 2010

Jubelläum - ein Jahr Bloggeschichte.

Seit fast einem Jahr erlaube ich es mir, Sie, verehrte Geschädigte, durch den wirren Themendschungel meiner Interessengebiete zu führen. Diese Reise hat uns vom lieben Paul, über die Schweiz, Kärnten, Deutschland, Großbritannien, Nordkorea und den Nahen Osten bis nach Norwegen geführt. Sie hat sich mit Minderheiten wie Schwulen, Monarchisten, Ausländern und Neonazis beschäftigt, hat die Studentenproteste, den Faschismus, die FPÖ, die Jungpolitiker, pubertäre Linke, den Wiener Wahlkampfkrude Sarrazin-Theorien und die heimische Bildungspolitik durchleuchtet und sich mit Verbrechersyndikaten wie dem Opernball, den ÖBB, der Kirche, dem ORF und der Kronenzeitung auseinandergesetzt. Außerdem wurden Ihnen Einblicke in spezifisch österreichische Themen wie die Notwendigkeit des Bundespräsidenten und des Verbotsgesetzes, den Ablauf eines Wahlsonntags, die weltbewegende Bedeutung von Titeln in diesem Land, die Bedeutung(slosigkeit) des Föderalismus, hirnrissige alemannische Anschlussideen, die Geschichte der Bundesverfassung, den besseren Patriotismus und in das Vorarlberger Brauchtum gewährt. Ich habe mich dann noch zum hochtrabenden Thema Weltfrieden verstiegen und für Sie das Jahrzehnt zusammengefasst. Am Ende mussten Sie gar meine Technikfeindlichkeit, meine Wienerfahrungen und meine Neurosen kennenlernen- Entschuldigung dafür. Dass zwischendurch ein paar Lückenfüller auftauchten, war ein Nebenprodukt meiner Schreibwut.

So ein Jubiläum verwendet man für gewöhnlich für Danksagungen. Also danke an all jene, die lesen ohne wegzuklicken, danke auch an die, die das zumindest manchmal schaffen. Danke an den lieben Paul, dem ich nie wieder eine Blogidee verraten werde, weil er mir diese in Kürze klauen wird. Danke an den guten Wolfi für seine Mitarbeit am Bildungsblog. Danke an alle Legastheniker, die meine Fehler (wie das fehlende "h" in der Domain dieses Blogs) genau wie ich übersehen haben und an die anderen ,die sie mir hoffentlich nicht als inhaltliche Schwäche auslegen. Danke an die dilletantische österreichische Innenpolitik, die wohl das Gros an Einträgen verschuldet hat und an das gute alte Wien und das schöne Vorarlberg, die mich mit ihren Auswüchsen immer wieder zum Schmunzeln und Kopfschütteln bringen. Danke an meine Wut, die mich weniger zum Lernen und mehr zum Blogschreiben getrieben hat. Danke an die elf Leute, die diesen Blog angeblich über Google regelmäßig verfolgen, besonders an Johnny, der das scheinbar gleich zweifach tut. (Sie können mich auch zu ihrem Google-Konto hinzufügen, wenn Sie das noch nicht getan haben.)

Sollten Sie grundsätzliche Richtungswünsche für diesen Blog hegen, so gebe ich Ihnen an dieser Stelle (Kommentarleiste unten) die Möglichkeit zur Fundamentalkritik. Paul bleibt davon ausgeschlossen, weil er sowieso nur Antiwerbung schalten würde. ;-) Ich hoffe Sie hatten ein informatives und amüsantes Jahr mit meinen literarischen Krabbelversuchen. Wenn Sie sich auch manchmal geärgert haben, freut mich das besonders. So wie ich meine Geltungssucht einschätze, wird Ihnen diese Selbstdarstellungplattform noch ein Weilchen erhalten bleiben. Für die Zukunft ist etwa ein Adventkalender mit Skandinavienschwerpunkt geplant. Lassen Sie sich überraschen...
Bis zum nächsten Blog,

Ihr ergebener Moesanthrop.