Montag, 26. Juli 2010

Vorarlberg zur Schweiz? Oder: Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Am 15 Mai 1919 stimmten 47.727 Vorarlberger, das waren über 80% der Stimmbevölkerung, für die Aufnahme von Verhandlungen über einen Anschluss des Landes an die Schweiz. Das Schicksal wollte es anders: Der österreichische Staatskanzler Karl Renner hatte verständlicherweise wenig Interesse daran bei den Friedens„verhandlungen“ in St. Germain en Laye aus eigenem Antrieb die Abtrennung eines weiteren österreichischen Gebietes zu betreiben. Welcher Staat, der gerade 90% seines Territoriums eingebüßt hat, bemüht sich um weitere Sezessionen? Die Schweiz wiederum hatte wenig Interesse daran ein wirtschaftlich marodes Gebiet aufzunehmen, das zudem noch deutschsprachig und katholisch war, wodurch viele die innere Balance der Eidgenossenschaft bedroht sahen. Eine schweizerische Verfassungspetition für die Aufnahme des Landes erhielt nur 29.132 Unterstützungen, weit entfernt von den nötigen 50.000 Stimmen. Das hämische Wort vom „Kanton Übrig“ machte die Runde, übrigens keine Schweizer Erfindung sondern ein hausgemachter Neologismus aus Vorarlberg. Der Friede wurde geschlossen, das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) verabschiedet und der Beitritt zur Schweiz war gegessen. Der Landtag erklärte den Beitritt des Landes zu Österreich. Die Geschichte nahm ihren Lauf und mit Anschlüssen machte man schlechte Erfahrungen.

Kürzlich, 91 Jahre und 60 Tage nach dem unglücklichen Pebiszit  vor dem Arlberg veröffentlichte die Schweizer Zeitschrift „Weltwoche“ eine Umfrage laut der sich 52% der Vorarlberger weiterhin den Beitritt zur Schweiz wünschen. Abgesehen von der Schwankungsbreite die Umfragen mit unter 500 Befragten mit sich bringen, stellt sich natürlich die Frage: Wer kommt auf solche Ideen? Die Antwort heißt Dominique Baettig, seines Zeichens SVP-Abgeordneter im Nationalrat zu Bern. Er hat seinen Parteivorsitzenden dazu gebracht eine Petition zu unterschreiben laut der grenznahen Gebieten der Beitritt zu Schweiz ermöglicht werden soll. Neben Vorarlberg trifft diese Expansionspolitik auch einige französische und italienische Regionen sowie das deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Das Wiener Qualitätsblatt „Österreich“ schlug mit der Schlagzeile „Dieser Schweizer will unser Vorarlberg“ zurück. Ein merkwürdiges Besitzdenken wechselt damit das andere ab. Schon Renner soll nach der Unterzeichnung des Vertrages in St. Germain gemeint haben: „Untertannowitz [Renners Geburtsdorf in Südmähren, Anm.] haben wir verloren, aber wenigstens haben wir Vorarlberg behalten.“ Dieser Satz soll zu seiner Beliebtheit in besagtem Bundesland nicht unbedingt beigetragen haben und Mitauslöser der sogenannten Fußachaffäre gewesen sein, bei der etwa 30.000 Vorarlberger die Taufe eines Bodenseedampfers auf den Namen des - das kommt noch dazu - sozialdemokratischen Staatsmannes verhinderten. Die Nussschale heißt heute „Vorarlberg“.
Es wäre falsch die Österreichhasser in Vorarlberg klein zu reden. Sie sind gewiss keine Mehrheit, aber die rot-weiß-roten Fahnen die in Fußach von der tobenden Menge in den Dreck getreten wurden, haben einige noch nicht vergessen. Das Verhältnis des „Ländles“ auf der anderen Seite des Berges mit Restösterreich, dem „Osten“ war und ist angespannt. Einerseits wird das kleine Land, in dem gerade mal 4,4% der österreichischen Gesamtbevölkerung leben, vom Rest gerne etwas belächelt. Im Land selber wird das dann oft in ein „die sind ja nur neidisch auf unseren wirtschaftlichen Erfolg“ umgedeutet. Aussagen wie jene von Rainer Nikowitz im letzten Profil - auch wenn sie nur im Scherz gemeint sind - tragen zur Sympathiegewinnung des restlichen Österreichs im äußersten Westen aber auch nur wenig bei:

„Die Vorarlberger wollen mehrheitlich los von Wien, ergab eine Umfrage der Schweizer „Weltwoche“. Und sie schmeißen sich, wie eine billige Vorstadtnutte an den Freier, der mit dem größeren Schein winkt, in einem entwürdigenden Akt der kollektiven Länderflucht an die Schweiz ran.“ Rainer Nikowitz - Gsi-Gong

Ein bisschen Minderwertigkeitskomplex spielt beim Vorarlberger Blick nach Osten natürlich auch mit. Das Klischee von den großen Faulen in Wien, die über die kleinen Fleißigen Vorarlberger bestimmen wollen, wird da gern und oft bedient. Auch die Politik der latenten Spannung, die von Vorarlberger Seite gefahren wird, trägt ihr Scherflein zu diesem West-Ost-Konflikt der besonderen Art bei. Man findet solche Interferenzen in interkollektiven Beziehungen sehr häufig (Österreich - Deutschland, Kanada - USA, Australien - Neuseeland, Norwegen - Schweden). Meist geht es dabei um kulturelle Nähe und unterschiedliche Größe.
Der ÖVP-Vorarlberg ist es - unter Nutzung dieses massenpsychologischen Phänomens - geglückt, was nur wenige (Regional)parteien schaffen: Sie wird mit dem Land identifiziert. Wie die CSU in Bayern, aber auch die SPÖ in Wien tritt sie als Verteidigerin der Tradition gegen „die Anderen“ auf. Das Umfrageergebnis ist aber auch ihr peinlich. Der ÖVP-Klubobmann im Nationalrat und Vorarlberger Karlheinz Kopf gab etwas tangiert zu Protokoll er fühle sich als „hundertprozentigen Österreicher“. Die Politik der Ländle-ÖVP lebt nämlich von der Spannung und nicht vom endgültigen Bruch.

Was hätte aber Vorarlberg von einem Anschluss an den Nachbarn im Westen? Wirtschaftliche Prosperität? Nur Idioten können so etwas denken. Vorarlberg hat - besonders in den Jahren seit dem EU-Beitritt - im Verhältnis zur Schweiz enorm aufgeholt. Die Schweizer kaufen mittlerweile jenseits des Rheins ein, vor Zeiten waren es noch die Vorarlberger die zum Shoppen auf die andere Seite des Flusses fuhren. Natürlich käme da noch mehr auf das „saubere Ländle“ zu: Die Schweiz hat nicht nur andere Steckdosen und Küchenzeilenformate, auch die längere Wehrpflicht wäre zu erdulden, der Export in die Union würde beim Übertritt zum Nichtmitglied Schweiz teilweise wegbrechen, das strikt atomkraftfeindliche Vorarlberg müsste sich mit den  Meilern in der Schweiz anfreunden und ein großteils privatfinanziertes Gesundheitssystem ließe für viele eine Arztbehandlung zum Luxus werden. Spätestens bei der ersten Kopfpauschale ihrer Krankenkasse würden sich die meisten Anschlüssler das gute alte Österreich wohl zurückwünschen.

Die Argumentation gegen den Panallemannismus muss aber über bloße wirtschaftliche Erwägungen hinausgehen. Wer von einer staatlichen Gemeinschaft profitiert, muss auch ein Mindestmaß an Loyalität für diese aufbringen können. Das staatsbürgerliche Treueverhältnis zur Republik Österreich für ein paar „Fränkli“ über Bord zu werfen ist schlichtweg unehrenhaft, man könnte es auch moralischen Landesverrat nennen. Keine Angst, ich stehe noch nicht mit dem Messer zwischen den Zähnen auf der „Wacht am Rhein“. Die bloße Unwahrscheinlichkeit eines solchen Anschlusses kann mich aber nicht übern den Ärger über dieses  kolportierte Umfrageergebnis hinwegtrösten. Würde man es ernst nehmen, bewiese es doch gerade, wie österreichisch die Vorarlberger eigentlich sind. Welcher Schweizer Kanton würde sich ohne Anwendung von Waffengewalt an einen fremden Staat anschließen lassen? Für das bloße Versprechen eines ökonomischen Vorteils die Büchse ins Korn zu werfen und die Seiten zu wechseln, klingt  hingegen nach 1938, nach Österreich.
Dem Anschlussversuch von 1919 kann man noch gewisses Verständnis entgegenbringen, war er doch Ausdruck einer Zeit, in der viele nicht wussten, was sie am nächsten Tag  essen sollten. Die Schweiz versprach eine sichere Zukunft. Wer sich zwischen seinen hungernden Kindern und dem Vaterland entscheiden muss, hat in Wirklichkeit nur eine Wahl. Dass Vorarlberg jetzt als abtrünniger Buhmann der Republik dasteht ist jedenfalls ungerechtfertigt. Waren es nicht Salzburg und Tirol, die - das Bundes-Verfassungsgesetz war schon in Kraft - mit über 90%iger Mehrheit den Anschluss an das Deutsche Reich beschlossen? Sind wir plötzlich „Vorstadtnutten“, weil eine windige Umfrage uns mangelnden Patriotismus bescheinigt? Für besagte Umfrage wurden 1791 Interviews geführt. Zwischen 300 und 400 davon mit Vorarlbergern. Bei einem Ergebnis mit knapper Mehrheit bedeutet das eine Schwankungsbreite von etwa 5% (Schwankungsbreiten genauer erklärt). Was sagt das überhaupt aus? Vor allem junge Leute hätten für die Schweiz optiert heißt es. Sind das die Jungen, die gelinde gesagt soviel Ahnung von Politik haben wie der Papst von Safersex? Oder doch die, die wegen ein bisschen billigem Diskopopulismus in Scharen FPÖ wählen?
Die vol.at-Foren quellen über vor Anschlusslobhudelei und dämlichen Anfeindungen gegen eine angeblich unfähige Koalition in Wien, in der sich vergessener Maßen auch die Vorarlberger Mehrheitspartei befindet. Früher hatten die Leute vielleicht nichts zu essen, aber heute hungert keiner mehr in Vorarlberg und nichts rechtfertigt in Wahrheit den Versuch auf - man verzeihe mir die pathetische Wortwahl - hochverräterische Art und Weise die Abtrennung österreichischen Territoriums an eine fremde Macht zu betreiben.
Diejenigen, die jetzt ihre Schweiz-Nostalgie entdecken, vergessen, dass absolut freie Marktwirtschaft, direkte Demokratie und Föderalismus auch Schattenseiten haben. Man soll auch nicht so naiv sein zu glauben, dass die „Schweizer Brüder“ mit offenen Armen auf uns warten. Immerhin: Als die Eidgenossenschaft nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Verteidigungsdoktrin überarbeitete und von defensiv auf offensiv umschwenkte, wurde bekannt, dass Vorarlberg für die Schweiz eine wichtige Rolle spielt: Als potentielles Schlachtfeld  in einem Konflikt gegen Deutschland.

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