Mittwoch, 25. Juli 2012

Republik Absurdistan, oder: Was vom Lande übrigblieb

Dietrich Birnbacher hat ausgepackt und die gesamte Republik stellt die Ohren auf. Korruption, Geldumschläge, illegale Parteienfinanzierung: Der damit endgültig ans Licht gekommene Teilaspekt der Hypo-Affäre ist so ungeheuerlich, dass man es kaum fassen kann. Eine Chronologie:

Im Zuge des Verkaufs der Hypo-Alpe-Adria-Bank AG an die BayernLB 2007 wird der Villacher Steuerberater Dietrich Birnbacher von der Kärntner Landesholding mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Veranlasst wird dies vom damaligen Landeshauptmann Jörg Haider und seinem Stellvertreter aus der ÖVP, dem Campingplatzbesitzer Josef Martinz. Als Honorar sind zunächst zwölf Millionen Euro avisiert. Doch Haider verlangt von Birnbacher einen „Patriotenrabatt“ und drückt die Zahlung auf sechs Millionen. Birnbacher liefert schließlich fünfeinhalb Seiten Altbekanntes, das Geld wird dennoch überwiesen. Birnbacher spricht Haider nach seiner Aussage auf das Missverhältnis der Gegenleistung zur immer noch horrende Summe an, dieser antwortet angeblich „Birni, dos passt scho.“

Als im Rahmen des Beinahebankrotts der Hypo der Vorgang bekannt wird, stellt die Staatsanwaltschaft Klagenfurt nach Vorerhebungen gegen Martinz und Birnbacher - Haider ist mittlerweile verstorben - zweimal die Ermittlungen ein. Sie verlässt sich bei ihrer Stellungnahme auf ein Privatgutachten der  Landesholding, nachdem das Honorar Birnbachers als „angemessen zu beurteilen“ sei. Die Korruptionsstaatsanwaltschaft verlangt schließlich die Einholung eines eigenen Gutachtens. Der beauftragte deutsche Experte stellt fest, dass das Sechs-Millionen-Honorar ein zumindest zwanzigfach überhöhter Betrag gewesen seie. Gegen Martinz und Birnbacher wird schließlich Anklage wegen Untreue erhoben.

Während Martinz im Prozess auf seiner Unschuld beharrte, legt Birnbacher zunächst ein Teilgeständnis ab. Er habe von vornherein gewusst, dass die Zahlung zu hoch gewesen sei. Am 25. Juli schließlich schiebt Birni, wie er in seinem Umfeld genannt wird, nach: Von Anfang an sei eine „Spende“ von Teilen der an ihn überwiesenen Landesmittel an die ÖVP und das damalige Kärntner BZÖ geplant gewesen. Martinz habe, als noch eine Zahlung von zwölf Millionen im Raum gestanden sei, die Drittelung des Honorars zwischen Schwarzen, Orangen und Birnbacher selbst angeregt. Schließlich habe er Birnbacher gebeten seine Schuldigkeit gegenüber der ÖVP mit der Übernahme von Personalkosten oder ähnlichem abzugelten. Wie das unauffällig zu bewerkstelligen sei, habe Martinz bei Ernst Strasser eruiert, dieser habe Erfahrung mit solchen Dingen gehabt. An die ÖVP flossen schließlich 100.000 Euro. 35.000 Euro davon (zuzüglich Umsatzsteuer) gingen an Martinz Anwälte für „Rechtsberatungen“. Weitere 65.000 habe der schwarze Landesrat von Birnbacher in einem Kuvert erhalten. 

Ein Jahr nach Haiders Tod hätten auch die freiheitlichen Landesräte Scheuch und Dobernig von ihm 500.000 Euro verlang. Die habe er aber nicht bezahlt, denn „Haider war ja schon tot“, so Birnbacher.

Martinz, dem noch in der Vorwoche vom Landesparteivorstand das Vertrauen ausgesprochen worden war und der bislang seine Unschuld beteuerte, blieb am Ende nichts anderes übrig, als selbst zu gestehen. Ja, er und Haider hätten bei der Beauftragung Birnbachers von Anfang an den Plan gehabt „dass etwas an die Parteien gehen soll“. An ein Kuvert und die Involvierung Strassers könne er sich aber nicht erinnern. Der Richter hielt fest, dass es auch die Taktik von Schwerverbrechern sei, nur das zu gestehen, was man ihnen auch nachweisen könne. Martinz Anwältin stritt noch im Gerichtssaal ab, etwas mit den 35.000 Euro Birnbachers zu tun zu haben. Josef Martinz selbst trat im Anschluss an die Verhandlung mit sofortiger Wirkung als ÖVP-Landeschef zurück und gleichzeitig aus der Partei aus, wohl um nicht in den Genuss der neuen parteiinternen Ethikregeln zu kommen.

Würde Jörg Haider noch leben, hätte ihn auch alle Herumlamentiererei der Welt nicht mehr vor einer Verurteilung retten können. Währenddessen lassen seine irdischen Statthalter, die Freiheitlichen in Kärnten, im Stile eines Volksschulaufsatzes zum Thema „mein schönstes Urlaubserlebnis“, via Homepage verlauten, dass der Gesprächstermin zwischen Uwe Scheuch, Harald Dobernig und Steuerberater Birnbacher „nichts Besonderes gewesen ist und die mediale Aufregung daher völlig unverständlich ist“. Dobernig und Scheuch ließen sich außerdem mit den Worten zitieren:
„Das ganze [sic!] ist somit ein weiterer untauglicher Versuch, die Freiheitlichen in Kärnten und ihre Führungsspitze anzupatzen und zu beschädigen.“
Der reflexartige freiheitliche Verbaldurchfall mit den üblichen Schlagworten „Menschenhatz“, „Hexenjagd“, „anpatzen“ und „Schmutzkübelkampagne“ ist mittlerweile schon so skurril, dass er nicht einmal mehr zum Kopfschütteln animiert. Die Kärntner Landespolitik hat die Grenze vom Dreisten ins Absurde schon längst überschritten. Dass das hochverschuldete Land nun auch noch seinen letzten Brocken Würde verloren hat, kümmert FPK-Chef Uwe Scheuch indes wahrscheinlich wenig. Ihn wird wohl eher die Frage umtreiben, wie lange Strache sich seine korrupten Eskapaden noch leisten kann, ohne sein Wahlziel 2013 zu gefähren. Unterdessen ist das Einzige was mich an der Causa Birnbacher noch umtreibt: Wo bleibt eigentlich Karlheinz Grasser?

Dienstag, 24. Juli 2012

Orbanisierung und Pontakratie, oder: Was ist los in Osteuropa?

Ungarn und Rumänien verstehen sich traditionell nicht besonders gut. Das liegt vor allem daran, dass nach dem Ersten Weltkrieg das vormals ungarische Siebenbürgen zum rumänischen Transsilvanien wurde und dort heute noch eine ansehnliche ungarischsprachige Minderheit lebt. Als Anfang Juni der ungarische Parlamentspräsident Köver, just vor den anstehenden Regionalwahlen, den ungarischstämmigen Szeklern in Rumänien einen Besuch abstattete, gingen zwischen Budapest und Bukarest die Wogen hoch. Der rumänische Ministerpräsident Ponta drohte gar, Köver ausweisen zu lassen.

Dabei stehen sich Rumänien und Ungarn an einer anderen Front mittlerweile näher als je zuvor. Gäbe es einen EU-Preis für Binnenautokratie, die Ministerpräsidenten beider Staaten wären wohl die heißesten Kandidaten dafür. Während Viktor Orbán in Ungarn seine parlamentarische Zweidrittelmehrheit nutzt, um die Verfassung umzupolen und die Pressefreiheit zu beschneiden, ist sein Namensvetter Victor Ponta in Rumänien damit beschäftigt politische Gegner kaltzustellen und den Staatspräsidenten loszuwerden.

Ponta ist ein Musterbeispiel dafür, wie es im rumänischen Staatsapparat aussieht. Er hat nicht nur seine Doktorarbeit, sondern auch seinen Lebenslauf gefälscht und es so ironischerweise bis zum Korruptionsstaatsanwalt gebracht. Seit Ponta Regierungschef ist, hat er nicht nur den Ombudsmann und die Präsidenten beider Parlamentskammern ausgetauscht, er hat auch das staatliche Gesetzblatt unter seine Kontrolle gebracht, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts per Dekret beschränkt und durch den Bildungsminister jene Kommission mit Parteigängern verstärken lassen, die gerade seine Plagiatsaffäre untersuchte. Außerdem hat er kurzerhand - und auch per Dekret - das nötige Quorum für die Absetzung des Staatspräsidenten nach unten revidieren lassen, was vom Verfassungsgerichtshof als illegal beanstandet wurde.

Ponta stützt sich auf eine Clique aus ehemaligen Anhängern des Ceaușescu-Regimes und entließ folgerichtig als eine seiner ersten Amtshandlungen den Direktor des Natiolalarchivs, der der rumänischen Öffentlichkeit Zugang zu Dokumenten aus der Ära der kommunistischen Diktatur gewährt hatte. Die Parteienkoalition, die Pontas Regierung stützt, ist durchsetzt von ehemaligen Securitate-Mitarbeitern und Privatisierungsgewinnlern der Transformationszeit. Der politische Ziehvater des jetzigen Regierungschefs, Ex-Ministerpräsident Nastase, wurde kürzlich wegen Korruption zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Die momentane politische Krise Rumäniens wurzelt nicht nur in der von Korruption zerfressenen politischen Führungsriege des Landes, sie ist vielmehr auch Ausdruck einer unausgewogenen Realverfassung. Das politische System Rumäniens gleicht in vielen Punkten dem österreichischen. Das kommt daher, dass die rumänische Verfassung sich in weiten Teilen an jener der V. Französischen Republik orientiert und diese, wie die österreichische Bundesverfassung, ein semipräsidentielles Regierungssystem vorsieht. Während in einer Präsidialrepublik wie etwa den USA das Staatsoberhaupt auch gleichzeitig Regierungschef ist und in einer parlamentarischen Demokratie wie Deutschland die Regierung von der Parlamentsmehrheit abhängig ist, besteht in einem Semipräsidialsystem eine gewisse Machtbalance zwischen Parlament und Präsident. In manchen Fällen führt dieses Machtgleichgewicht jedoch eher zu einer Art Konkurrenzverhalten zwischen den Staatsorganen. In Österreich wird das dadurch vermieden, dass der Bundespräsident sich traditionell aus der Tagespolitik heraushält (Rollenverzicht). In Frankreich wiederum wurden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen synchronisiert, um eine sogenannte Cohabitation, also die Zwangspartnerschaft eines Präsidenten der einen Partei mit einer Parlamentsmehrheit der anderen, zu vermeiden

 In Rumänien finden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zwar ebenfalls zeitnah statt, im Gegensatz zu Frankreich besteht jedoch ein Verhältniswahlsystem. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit von Koalitionsregierungen hoch ist und der Präsident damit mitunter erst recht einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenübersteht. Außerdem ist das rumänische Parteiensystem sehr volatil. All das führt zu einer Verschärfung des Konfliktpotentials zwischen Gesetzgebung und Staatsoberhaupt uns somit zu einer grundsätzlichen Instabilität des politischen Systems. 2007 versuchte die damalige Regierung erstmals und letztlich erfolglos, Präsident Traian Băsescu abzusetzen. Die 2008 gewählte Regierung wiederum zerfiel bereits nach neun Monaten.

Schließlich musste Băsescu gegen seinen Willen die von Ponta geführte Koalition akzeptieren. Diese dankte es ihm mit einem Absetzungsverfahren das zu einem Referendum am 29. Juli dieses Jahres führen wird. Viele Rumänen fürchten sich nun vor einer „Orbanisierung“ ihres Landes. Nicht ganz zu Unrecht, denn schließlich war es der ungarische Ministerpräsident, der vorgemacht hat, wie ein Staatswesen nach eigenem Gutdünken umgestaltet werden kann. Nicht nur, dass er alle Medien unter die Kontrolle einer mit Gefolgsleuten besetzten Behörde stellte und die Meinungsfreiheit mit etlichen Strafbestimmungen zu Mediendelikten beschneiden wollte, er verleibte auch die privaten Pensionsfonds dem Staat ein und verschaffte dem ungarischen Budget damit einen künstlichen Überschuss.

Die Zweidrittelmehrheit, über die seine Partei Fidesz im Budapester Parlament verfügt, nutzte Orban nicht nur, um der von ihm initiierten neuen Verfassung eine zwei Seiten lange schwülstige Präambel („nationales Bekenntnis“) zu verpassen, sondern auch, um den Einheitssteuersatz bei 16% festzuschreiben, womit er sämtliche Nachfolgeregierungen ohne verfassungsändernde Mehrheit in die Pflicht nimmt. Vor dem Verfassungsgericht dürfen Normalbürger nun nicht mehr klagen, auch die Prüfbefugnis des Gerichts wurde eingeschränkt. Das Pensionsantrittsalter für Richter wurde nach unten gesetzt, um 300 missliebige Juristen loszuwerden. Die Maßnahme wurde mittlerweile durch den Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben. Außerdem wurde Obdachlosigkeit in Ungarn per se unter Strafe gestellt.

Währenddessen ringt die EU um eine einheitliche Position. Während man sich bei Orban noch mit halbherzigen Versprechen zufrieden gab, schießt man auf Ponta bereits schärfer. Man schließe auch eine Suspendierung der rumänischen EU-Mitgliedschaft nicht aus, hieß es zuletzt aus Brüssel. Dass sowohl Kommissionspräsident Barroso, als auch Ratspräsident van Rompuy sowie die deutsche Kanzlerin Merkel - die sich besonders scharf gegenüber Rumänien äußerte - der Europäischen Volkspartei angehören, zu der auch Orbans Fidesz zählt, während Altkommunist Ponta sich Sozialdemokrat nennt, mag dabei eine gewisse Rolle gespielt haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Orban und Ponta die zwei Seiten einer Münze sind. Scheinbar hat man es in manchen osteuropäischen Staaten noch nicht gelernt, dass die Ausübung politischer Macht nicht bis an die Grenzen der Legalität getrieben werden sollte. Aber Ponta und Orban machen es sich einfach: Wenn die Verfassung sich ihnen in den Weg stellt, ändern sie sie einfach. Der eine mag es mit verfassungsändernder Mehrheit tun, der andere mit Dekreten, das Ergebnis bleibt das gleiche.

Dass eine solche Beliebigkeit in Fragen der grundsätzlichen Ausrichtung eines Staatswesens überhaupt möglich ist, offenbart auch eine fundamentale Schwäche des politischen Systems. Eine Verfassung die nicht fähig ist, Westentaschenpotentaten und Hinterhofputins vom Hantieren mit Grundrechten abzuhalten, ist eine schwache Verfassung. Nicht umsonst haben die Verfassunggeber andernorts Korrektive für fundamentale Änderungen (wie Art 44 Abs 3 B-VG oder Art. 79 Abs. 3 GG) vorgesehen. Rumänien und Ungarn mangelt es aber nicht nur an den notwendigen Sicherungen im politischen Schaltkasten, sondern auch am verantwortungsvollen Umgang mit Macht überhaupt. Zu Umfärbungsaktionen im höheren Beamtenapparat kommt es auch in Österreich immer wieder. Wenn aber in Bukarest die Regierung wechselt, werden die Staatsbediensteten gleich in Massen auf die Straße gesetzt. Dass die Bevölkerung dabei schon längst jedes Vertrauen in die politische Führung ihrer Länder verloren hat, wundert wohl niemanden. 
„Wenn man durch Arbeit zu Reichtum kommen würde, dann müssten die Mühlen den Eseln gehören.“ rumänisches Sprichwort

Freitag, 6. Juli 2012

Von Einbeinigen und Teenietussen, oder: immer wieder ÖBB

Wenn ein Mensch beruflich so eingespannt ist wie ich – und nicht einmal mehr zum blogschreiben kommt – braucht er früher oder später Urlaub. Dessen bin ich mir spätestens seit letzter Woche bewusst, als ich dreimal in die falsche Straßenbahn eingestiegen bin und den Bankomat der Bank-Austria-Filiale um die Ecke meine 50 € wieder habe einziehen lassen. Bevor mich die nervenzerreibende Verwaltungsarbeit also soweit treibt, dass ich am Ende noch „Telefonat“ statt „fernmündliche Rücksprache“ sage oder einem der vielen Einschreiter (aka Bürger), die mich mit „Sehr geehrte Frau Dr.“ anschreiben, obwohl ich weder das eine , noch das andere (letzteres mit gewissem Bedauern) bin, e-brieflich eine reindrücke, habe ich mich in einen Zug der ÖBB gesetzt, um dem vindobonensischen Großstadtmoloch zu entfliehen. Wie immer, wenn ich eine Reise mache, artet das Ganze aber früher oder Später auf die eine oder andere Weise aus.

Schon auf dem Weg zum Westbahnhof steigt eine divenhafte Mittfünfzigerin in die U3 zu, die mich irgendwie an die Filmfigur der Scarlett O'Hara erinnert. Sie wirft sich und ihr schwarzes Sommerkleid theatralisch gegen die Tür, umklammert beide Griffe schon beinahe lasziv und wirft mir durch ihre strohigen schwarz gefärbten Haare Blicke zu, die mich dezent irritieren und daher geflissentlich ignoriert werden. In der Station Westbahnhof verlässt sie den Silberpfeil so dramatisch wie sie ihn betreten hat und ist augenblicklich wie vom Winde verweht. Kurz darauf schieben im Bahnhofsgebäude zwei Bundesbahn-Securities einen adipösen Herrn im Rollstuhl zum Bahnsteig. Ich frage mich noch, warum er so einen komischen Stempel auf dem Bein hat, dann erste sehe ich, dass es eine Prothese ist. 

Musste ich bei meiner letzten Zugfahrt noch mit meinem Bahnschicksal hadern – die schnellste Bahn Europas blieb noch vor Purkersdorf wegen technischer Gebrechen liegen – so ist es mir diesmal scheinbar wohlgesonnen. Der Railjet fährt diesmal ungewöhnlich früh in den Bahnhof ein und rettet mich so davor, in meiner langen Diensthose und dem Hemd noch an Ort und Stelle zu schmelzen. Weil ich über den Arlberg will und nicht schon im düsteren Innsbruck versumpfen möchte, muss ich bis fast ans Ende des Bahnsteigs gehen, der hintere Zugteil wird in Tirol abgekoppelt. Dafür sind nur wenige Passagiere da, bis zur Abfahrt werden auch nicht wesentlich mehr zusteigen. Knapp hinter der hässlichsten Provinzhauptstadt auf Gottes weiter Erde (d. h. St. Pölten) verfalle ich auf die Idee festzustellen, ob ich diesmal das Glück habe, in einem jener Wagons zu sitzen, die bereits mit W-Lan ausgestattet sind. Dazu könnte ich freilich den Computer einschalten oder aber aufstehen und nachsehen, ob die Tür ein entsprechendes Hinweispickerl hat. Weil ich ein sehr fauler Mensch bin, beschließe ich aufzustehen, bevor ich meine alte Ratterkiste von Laptop, die zum Hoch- und Runterfahren länger braucht als ein japanisches Atomkraftwerk, in Betrieb nehme. Auf dem letzten Platz im Wagon hat sich jemand breit gemacht und streckt sein Bein über den ganzen Gang. Normalerweise würde ich dann einfach „darf ich kurz“ sagen, aber die besagte Extremität besteh aus einem Stahl-Karbon-Verbundstoff. Ich frage mich wegen der ungewöhnlichen Dichte an Monopäden, ob vielleicht in Salzburg ein Einbeinigenkongress stattfindet und drehe wieder um, weil Behinderte zwar immer gerne betonen, wie alle anderen behandelt werden zu wollen, es mir aber doch unpassend erscheint, den Cyborg zu fragen, ob er sein Blechteil mal zur Seite rücken kann.

In St. Pölten steigt ein greiser Vater mit zwei kleinen Kindern ein. Während die hochschwangere Mutter vom Bahnsteig aus winkt und der etwa vierjährige Sohn intensiv seinen Bauchnabel inspiziert, veranstaltet die Tochter ein Abschiedsschreikonzert bei dem sie das Wort Mama die gesamte menschliche Hörsequenz hoch und runter intonisiert. Mich retten indes meine Kopfhörer. Später hat der einbeinige Bandit seine Gangblockade beendet und lässt mich zur Zugtür vor, die natürlich kein W-Lan-Pickerl hat. Auf dem Rückweg sehe ich wie der an den Armen reichlich tätowierte Käpt’n Ahab sich die Zeit mit seinem Ipad und einem Spiel mit bunten Förmchen vertreibt. Ich ertappe mich bei der Frage, ob sein rechtes Bein wohl auch mal tätowiert war und wenn ja, warum er sein neues Go-go-Gadgeto-Haxerl nicht auch hat kolorieren lassen. Ich frage mich auch, ob ich mich deswegen schämen sollte, verneine das Vorhandensein moralischer Friktionen aber umgehend.

In Linz sind es schon mehr Leute, die gern mitfahren möchten. Ins vorderste Abteil verirren sich indes nur eine leicht frustriert wirkende Blondine mit verhärmten Gesichtszügen – ich tippe auf Genderforscherin – ein Hippie mit langen blonden Haaren, der später auf seinem Computer irgendwelchen faden 3D-Modelle herumjonglieren wird, und ein vollschlanker Typ im grünen Polohemd, der innert einer halben Stunde wegdöst und dabei im vorderen Wagenteil seinen leicht unangenehmen Körpergeruch verbreitet.

In Salzburg verlässt der Invalide den Zug, dafür steigen ein paar Vorarlberger ein, die schwer nach Präsenzdienst, sprich Alkohol riechen. Ihr Gegröle und primateskes Gehabe lassen mich an der bisherigen Theorie der Evolution des Menschen zweifeln. Vielleicht ist er ja doch im Bregenzerwald von den Bäumen gestiegen. Als sich nach etwa 20 Minuten ein impertinenter Gestank breitmacht, dem selbst der Dicke im grünen Leiberl nichts entgegenzusetzen hat, stelle ich fest, dass sich zwei Exemplare des Homo Waldensis Brigantiorum die Schuhe – wider Erwarten keine Holzklocks – ausgezogen haben. Jeder der beiden besitzt ein völlig ramponiertes Smartphone, das wohl Rückschlüsse auf nicht nur Display-vernichtende nächtliche Saufgelage ziehen lässt. Um ihren Pegel zu halten haben die Herren bereits zwei Heineken gezwickt. Während sie allerlei stupides Gedöns von sich geben und ihr Schuhwerk desodoriert, als wäre darin eine Familie lepröser Skunks verendet, bekomme ich doch noch ein schlechtes Gewissen, als ich mir für kurze Zeit wünsche, die Einbeinigenquote wäre heute noch höher gewesen.

Ich stehe kurz auf, um mir die Füße, gottseidank hab ich zwei, zu vertreten, da wandert einer der Iltisse an mir vorbei. Von einer fast lächerlich geringen Körpergröße, kostet es ihn schon Mühe zwei leere Plastikbecher vom unbeaufsichtigten Verpflegungswagerl zu fladern, um sich und seinen beschränkten Freunden roten Wodka zu kredenzen. In der Tat könnte er wohl problemlos mit seinem Gangsterkapperl unter jedem Beistelltisch durchgehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Wäre er nicht angezogen wie ein Liliputaner aus der Bronx, würde er mit seinen behaarten Tretern sogar als Hobbit durchgehen. Während einer seiner Saufkumpanen bereits WO gegeben hat oder am Gestank seiner eigenen Füße zugrundegegangen ist, schauen sich zwei andere – von denen einer sehr ansehnliche Ich-will-mal-große-Löcher-in-den-Läppchen-haben-Ohrringe trägt – einen sicher sehr geistreichen Film an. Der Homunkulus selbst spielt mit seinem Handy.

Während wir in Innsbruck einfahren, erinnere ich mich an die grauslichste Bosna, die ich in meinem Leben jemals – und zwar ebenda – gegessen habe. Verkauft von einer Wurstwarenfachfrau, die wie eine Dogge-Mensch-Hybride aussah, schmeckte sie wie vorverdautes nordkoreanisches Gefängnisfutter. Ich würde Sie jetzt gerne vor dem Würstelstand warnen, weil ich mich aber in Innsbruck nicht auskenne, kann ich nur raten: Meiden Sie die Doggenfrau!

In Innsbruck wird die fröhlich stinkende Zuggesellschaft durch zwei Herren und eine Dame um die fünfzig bereichert, mit einem Dutzend weiblichen und ein paar männlichen Teenager im Schlepptau. Die Polonäse aus gefälschten Luis-Vuitton-Taschen und schwarz-weiß gefärbten Haaren lässt mich an die altägliche Berufsschülerprozession denken, die sich immer an meiner Schule vorbeibewegte. Ich nenne die Ladys bei mir Tschessika, Wanessa-Kimberlie, Schantall oder Sindi-Kiara und frage mich, ob sie wohl zu einem Außendreh von ATV oder RTL II unterwegs sind. Eine trägt ein Jeanoberteil zu Jean-Hot-Pants, was so nach 80er ausschaut, dass ich jeden Augenblick den Geist von Patrick Swayze erwarte, der in den Gang springt und „Wo ist mein Baby?“ schreit. Die, die ich Tschessika getauft habe, trägt ein Oberlippenpiercing und würde an und für sich gut zum diebischen Schrumpfwälder passen, der eines im Nacken hat. Nur leider geht er ihr gerade mal bis zum Bauchnabel und wenn sie nicht will, dass er ihr da die Flusen rauspustet, ist er als Partner für sie leider doch eher ungeeignet.

Vor St. Anton gehen zwei Herren mit Polizeiwesten durch, nehmen aber niemanden mit. Ich bete für den Tag an dem Stinkfüße und Dummheit strafbar werden. Nach dem Arlberg habe sich auch die Teenieweiber ihrer Schuhe entledigt, laufen mit teils blau lackierten Zehennägeln herum und kreischen, als müssten sie ihre Beschränktheit noch unter Beweis stellen, Sätze wie „Heast Oida bist deppert?“ oder „Isch koa Ruhezone Alter!“ durch die Gegend. Vor mir werfen sich immer wieder 90 Kilo Migrationshintergrund in den Sessel und lassen meinen Laptop auf und ab hüpfen. Als der gute Emre dann im kollektiven Übermut irgendwas auf dem Tisch verschüttet zuckt der Begleiter, der um den Hals ein Kettchen mit einem Goldkreuz trägt, aus: „Jetzt putzesch des zemma, susch krüagsch no a Ohrfiega zum Schluss, bevor i mi verabschied!“ Pädagogische Befähigung des Aufsichtspersonals und Niveau der Zubeaufsichtigenden gehen scheinbar Hand in Hand. Eine lehnt sich müde an ihre Sitznachbarin und erntet prompt den Spruch „Bist du lesbisch oder sowas?“ Am Ende habe ich - wer will es mir verübeln? - die Minuten nach Feldkirch gezählt. Und Gott sei Dank: Der Zug war pünktlich.