Freitag, 6. Juli 2012

Von Einbeinigen und Teenietussen, oder: immer wieder ÖBB

Wenn ein Mensch beruflich so eingespannt ist wie ich – und nicht einmal mehr zum blogschreiben kommt – braucht er früher oder später Urlaub. Dessen bin ich mir spätestens seit letzter Woche bewusst, als ich dreimal in die falsche Straßenbahn eingestiegen bin und den Bankomat der Bank-Austria-Filiale um die Ecke meine 50 € wieder habe einziehen lassen. Bevor mich die nervenzerreibende Verwaltungsarbeit also soweit treibt, dass ich am Ende noch „Telefonat“ statt „fernmündliche Rücksprache“ sage oder einem der vielen Einschreiter (aka Bürger), die mich mit „Sehr geehrte Frau Dr.“ anschreiben, obwohl ich weder das eine , noch das andere (letzteres mit gewissem Bedauern) bin, e-brieflich eine reindrücke, habe ich mich in einen Zug der ÖBB gesetzt, um dem vindobonensischen Großstadtmoloch zu entfliehen. Wie immer, wenn ich eine Reise mache, artet das Ganze aber früher oder Später auf die eine oder andere Weise aus.

Schon auf dem Weg zum Westbahnhof steigt eine divenhafte Mittfünfzigerin in die U3 zu, die mich irgendwie an die Filmfigur der Scarlett O'Hara erinnert. Sie wirft sich und ihr schwarzes Sommerkleid theatralisch gegen die Tür, umklammert beide Griffe schon beinahe lasziv und wirft mir durch ihre strohigen schwarz gefärbten Haare Blicke zu, die mich dezent irritieren und daher geflissentlich ignoriert werden. In der Station Westbahnhof verlässt sie den Silberpfeil so dramatisch wie sie ihn betreten hat und ist augenblicklich wie vom Winde verweht. Kurz darauf schieben im Bahnhofsgebäude zwei Bundesbahn-Securities einen adipösen Herrn im Rollstuhl zum Bahnsteig. Ich frage mich noch, warum er so einen komischen Stempel auf dem Bein hat, dann erste sehe ich, dass es eine Prothese ist. 

Musste ich bei meiner letzten Zugfahrt noch mit meinem Bahnschicksal hadern – die schnellste Bahn Europas blieb noch vor Purkersdorf wegen technischer Gebrechen liegen – so ist es mir diesmal scheinbar wohlgesonnen. Der Railjet fährt diesmal ungewöhnlich früh in den Bahnhof ein und rettet mich so davor, in meiner langen Diensthose und dem Hemd noch an Ort und Stelle zu schmelzen. Weil ich über den Arlberg will und nicht schon im düsteren Innsbruck versumpfen möchte, muss ich bis fast ans Ende des Bahnsteigs gehen, der hintere Zugteil wird in Tirol abgekoppelt. Dafür sind nur wenige Passagiere da, bis zur Abfahrt werden auch nicht wesentlich mehr zusteigen. Knapp hinter der hässlichsten Provinzhauptstadt auf Gottes weiter Erde (d. h. St. Pölten) verfalle ich auf die Idee festzustellen, ob ich diesmal das Glück habe, in einem jener Wagons zu sitzen, die bereits mit W-Lan ausgestattet sind. Dazu könnte ich freilich den Computer einschalten oder aber aufstehen und nachsehen, ob die Tür ein entsprechendes Hinweispickerl hat. Weil ich ein sehr fauler Mensch bin, beschließe ich aufzustehen, bevor ich meine alte Ratterkiste von Laptop, die zum Hoch- und Runterfahren länger braucht als ein japanisches Atomkraftwerk, in Betrieb nehme. Auf dem letzten Platz im Wagon hat sich jemand breit gemacht und streckt sein Bein über den ganzen Gang. Normalerweise würde ich dann einfach „darf ich kurz“ sagen, aber die besagte Extremität besteh aus einem Stahl-Karbon-Verbundstoff. Ich frage mich wegen der ungewöhnlichen Dichte an Monopäden, ob vielleicht in Salzburg ein Einbeinigenkongress stattfindet und drehe wieder um, weil Behinderte zwar immer gerne betonen, wie alle anderen behandelt werden zu wollen, es mir aber doch unpassend erscheint, den Cyborg zu fragen, ob er sein Blechteil mal zur Seite rücken kann.

In St. Pölten steigt ein greiser Vater mit zwei kleinen Kindern ein. Während die hochschwangere Mutter vom Bahnsteig aus winkt und der etwa vierjährige Sohn intensiv seinen Bauchnabel inspiziert, veranstaltet die Tochter ein Abschiedsschreikonzert bei dem sie das Wort Mama die gesamte menschliche Hörsequenz hoch und runter intonisiert. Mich retten indes meine Kopfhörer. Später hat der einbeinige Bandit seine Gangblockade beendet und lässt mich zur Zugtür vor, die natürlich kein W-Lan-Pickerl hat. Auf dem Rückweg sehe ich wie der an den Armen reichlich tätowierte Käpt’n Ahab sich die Zeit mit seinem Ipad und einem Spiel mit bunten Förmchen vertreibt. Ich ertappe mich bei der Frage, ob sein rechtes Bein wohl auch mal tätowiert war und wenn ja, warum er sein neues Go-go-Gadgeto-Haxerl nicht auch hat kolorieren lassen. Ich frage mich auch, ob ich mich deswegen schämen sollte, verneine das Vorhandensein moralischer Friktionen aber umgehend.

In Linz sind es schon mehr Leute, die gern mitfahren möchten. Ins vorderste Abteil verirren sich indes nur eine leicht frustriert wirkende Blondine mit verhärmten Gesichtszügen – ich tippe auf Genderforscherin – ein Hippie mit langen blonden Haaren, der später auf seinem Computer irgendwelchen faden 3D-Modelle herumjonglieren wird, und ein vollschlanker Typ im grünen Polohemd, der innert einer halben Stunde wegdöst und dabei im vorderen Wagenteil seinen leicht unangenehmen Körpergeruch verbreitet.

In Salzburg verlässt der Invalide den Zug, dafür steigen ein paar Vorarlberger ein, die schwer nach Präsenzdienst, sprich Alkohol riechen. Ihr Gegröle und primateskes Gehabe lassen mich an der bisherigen Theorie der Evolution des Menschen zweifeln. Vielleicht ist er ja doch im Bregenzerwald von den Bäumen gestiegen. Als sich nach etwa 20 Minuten ein impertinenter Gestank breitmacht, dem selbst der Dicke im grünen Leiberl nichts entgegenzusetzen hat, stelle ich fest, dass sich zwei Exemplare des Homo Waldensis Brigantiorum die Schuhe – wider Erwarten keine Holzklocks – ausgezogen haben. Jeder der beiden besitzt ein völlig ramponiertes Smartphone, das wohl Rückschlüsse auf nicht nur Display-vernichtende nächtliche Saufgelage ziehen lässt. Um ihren Pegel zu halten haben die Herren bereits zwei Heineken gezwickt. Während sie allerlei stupides Gedöns von sich geben und ihr Schuhwerk desodoriert, als wäre darin eine Familie lepröser Skunks verendet, bekomme ich doch noch ein schlechtes Gewissen, als ich mir für kurze Zeit wünsche, die Einbeinigenquote wäre heute noch höher gewesen.

Ich stehe kurz auf, um mir die Füße, gottseidank hab ich zwei, zu vertreten, da wandert einer der Iltisse an mir vorbei. Von einer fast lächerlich geringen Körpergröße, kostet es ihn schon Mühe zwei leere Plastikbecher vom unbeaufsichtigten Verpflegungswagerl zu fladern, um sich und seinen beschränkten Freunden roten Wodka zu kredenzen. In der Tat könnte er wohl problemlos mit seinem Gangsterkapperl unter jedem Beistelltisch durchgehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Wäre er nicht angezogen wie ein Liliputaner aus der Bronx, würde er mit seinen behaarten Tretern sogar als Hobbit durchgehen. Während einer seiner Saufkumpanen bereits WO gegeben hat oder am Gestank seiner eigenen Füße zugrundegegangen ist, schauen sich zwei andere – von denen einer sehr ansehnliche Ich-will-mal-große-Löcher-in-den-Läppchen-haben-Ohrringe trägt – einen sicher sehr geistreichen Film an. Der Homunkulus selbst spielt mit seinem Handy.

Während wir in Innsbruck einfahren, erinnere ich mich an die grauslichste Bosna, die ich in meinem Leben jemals – und zwar ebenda – gegessen habe. Verkauft von einer Wurstwarenfachfrau, die wie eine Dogge-Mensch-Hybride aussah, schmeckte sie wie vorverdautes nordkoreanisches Gefängnisfutter. Ich würde Sie jetzt gerne vor dem Würstelstand warnen, weil ich mich aber in Innsbruck nicht auskenne, kann ich nur raten: Meiden Sie die Doggenfrau!

In Innsbruck wird die fröhlich stinkende Zuggesellschaft durch zwei Herren und eine Dame um die fünfzig bereichert, mit einem Dutzend weiblichen und ein paar männlichen Teenager im Schlepptau. Die Polonäse aus gefälschten Luis-Vuitton-Taschen und schwarz-weiß gefärbten Haaren lässt mich an die altägliche Berufsschülerprozession denken, die sich immer an meiner Schule vorbeibewegte. Ich nenne die Ladys bei mir Tschessika, Wanessa-Kimberlie, Schantall oder Sindi-Kiara und frage mich, ob sie wohl zu einem Außendreh von ATV oder RTL II unterwegs sind. Eine trägt ein Jeanoberteil zu Jean-Hot-Pants, was so nach 80er ausschaut, dass ich jeden Augenblick den Geist von Patrick Swayze erwarte, der in den Gang springt und „Wo ist mein Baby?“ schreit. Die, die ich Tschessika getauft habe, trägt ein Oberlippenpiercing und würde an und für sich gut zum diebischen Schrumpfwälder passen, der eines im Nacken hat. Nur leider geht er ihr gerade mal bis zum Bauchnabel und wenn sie nicht will, dass er ihr da die Flusen rauspustet, ist er als Partner für sie leider doch eher ungeeignet.

Vor St. Anton gehen zwei Herren mit Polizeiwesten durch, nehmen aber niemanden mit. Ich bete für den Tag an dem Stinkfüße und Dummheit strafbar werden. Nach dem Arlberg habe sich auch die Teenieweiber ihrer Schuhe entledigt, laufen mit teils blau lackierten Zehennägeln herum und kreischen, als müssten sie ihre Beschränktheit noch unter Beweis stellen, Sätze wie „Heast Oida bist deppert?“ oder „Isch koa Ruhezone Alter!“ durch die Gegend. Vor mir werfen sich immer wieder 90 Kilo Migrationshintergrund in den Sessel und lassen meinen Laptop auf und ab hüpfen. Als der gute Emre dann im kollektiven Übermut irgendwas auf dem Tisch verschüttet zuckt der Begleiter, der um den Hals ein Kettchen mit einem Goldkreuz trägt, aus: „Jetzt putzesch des zemma, susch krüagsch no a Ohrfiega zum Schluss, bevor i mi verabschied!“ Pädagogische Befähigung des Aufsichtspersonals und Niveau der Zubeaufsichtigenden gehen scheinbar Hand in Hand. Eine lehnt sich müde an ihre Sitznachbarin und erntet prompt den Spruch „Bist du lesbisch oder sowas?“ Am Ende habe ich - wer will es mir verübeln? - die Minuten nach Feldkirch gezählt. Und Gott sei Dank: Der Zug war pünktlich.

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