Montag, 3. Mai 2010

Einmal Manila und zurück, oder: Fünf Jahre studieren in Wien.

In Großbuchstaben stand „6800 Feldkirch – PHILIPPINEN“ auf dem Umschlag. Der letzte Zusatz war vom Postler durchgestrichen und durch „ÖSTERREICH !“ ersetzt worden. Da war er nun also, der lang erwartete Brief. Angefordert noch vom Computer aus der Schulbibliothek, mangels häuslicher Internetversorgung. Er enthielt ein personalisiertes Massenschreiben, von denen ich in den folgenden Jahren noch viele erhalten sollte und eine genaue Liste mit Dokumenten und deren Kopien die mitzuführen waren zum Inskriptionstermin an der Universität Wien. Fast fünf Jahre sind seitdem vergangen.

Manche Leute würden sagen ich sei sonst organisatorisch eher verpeilt - bei der Internetanmeldung war ich warscheinlich bei der Länderangabe um einen Buchstaben auf die Philippinen verutscht - aber Listen liegen mir. Da kann man alles abarbeiten und doppelchecken und am Ende passts dann auch. Daher hatte ich auch alles mit, um mich fürs Diplomstudium zu inskribieren, nicht wie ein Jahr später der gute Wolfi, dem es trotzdem - wohl als erstem Menschen überhaupt - gelang, ohne original Maturazeugnis und nur mit seinem Charme bewaffnet einer abgebrühten kalten Universitätssekretärin einen Studentenausweis abzuluchsen.
Mein philippinischer Brief aber sorgte im Zulassungssekretariat für umgehende Heiterkeit: „Hobts es des scho gwusst? Feldkirch liegt auf de Philippinen!“ Und tatsächlich fühlte ich mich in den Jahren danach oft so, als wäre ich vom andern Ende der Welt und nicht vom andern Ende Österreichs nach Wien gekommen. Was man denn studieren wolle war die nächste Frage. Gut vorbereitete Antwort: „Jus und Politikwissenschaft.“ Gegenfrage: „Was als Hauptstudium?“ Schlecht vorbereitete Antwort: „Ähhh... Hauptstudium?“ Schließlich entschied sich das Bauchgefühl für eines der beiden. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde ich wüsste noch welches. Später erfuhr ich, das habe ohnehin keine rechtliche Bedeutung mehr. Aha... Österreich.

Ich zog in ein Studentenheim, acht Quadratmeter Doppelzimmer, WC am Gang, 100€ Kampfpreis im 20. Bezirk. Immer wieder Stromausfälle und ein baugleiches Asylantenheim vis a vis, aus dem man regelmäßig Angstschreie von Frauen und Kindern hören konnte. Die Hausverwalterin hatte einen Hund im Rattenformat und einen Papagei, der ein Zimmer direkt unter meinem bewohnte und neben dem Nokia-Standardklingelton, dem Druckergeräusch und Hänschen klein auch die Titelmelodie von Star Wars pfeifen konnte. Außerdem hatte Frau S. einen Hang zum Kontrollwahn - Schuhe sind aus feuerpolizeilichen Gründen nicht am Gang zu verwahren - und einen Lebensgefährten namens Manfred mit langem dunklem Haar und einem Hang dazu den ganzen Tag mit nacktem Oberkörper herumzulaufen. Was am Gang vor ihrer Wohnung so seltsam roch, erschloss sich meiner grenzenlosen Naivität und Unbedarftheit erst, als ich über die charakteristische Geruchsnote illegaler Rauchmittel informiert worden war... Wien.

Ich teilte mir mit meinem Mitbewohner einen Schreibtisch, ein Bad und die Eltern. Über das Vergnügen, sich mit 19 wieder ein Zimmer mit seinem Bruder teilen zu dürfen etwas nach der Wahrheit zu erwähnen verbietet mir die familiäre Courtoisie. Die Freude dürfte aber durchaus gleichmäßig verteilt gewesen sein. Mein Zimmergenosse glänzte aber ohnehin mehrheitlich durch freundinbedingte Abwesenheit, irgendwie war es glaube ich uns beiden recht.

Das Leben packte mich von der harten Seite an wie ein Kleinkind, das man ohne seine Mutter in einem Einkaufszentrum aussetzt. Am ersten Wochenende saß ich im Heim, das Wort zu Hause kommt mir diesbezüglich heute noch schwer über die Lippen, mit leerem Magen und mit schrecklichem Heimweh. Ich hatte vergessen einzukaufen. Meine Tage verbrachte ich auf der Uni oder vor dem Fernseher im Gemeinschaftsraum, mit dem ich - aus Sicht der anderen Heimbewohner - zu einer optischen Einheit verschmolz. Manchmal hatte ich Gesellschaft von einer ebenso eremitischen Steirerin aus Liezen (ja, der Bezirk ist größer als Vorarlberg). An manchen Tagen habe ich aber mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Manche Leute werden auch so erwachsen.

In Wien sah ich Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Vor meinem Heim kramten Menschen, auch Kinder, in den Mülltonnen um Essen und Wertsachen. Über die Straßen liefen nachts Ratten. Einmal musste der Manni von der Hausbesorgerin mit ein paar stärkere Burschen ins Asylantenheim hinüber rennen um einer Frau zu Hilfe zu kommen, die von ihrem Mann verprügelt wurde. Von akademischer Abgehobenheit war in diesem Studentenheim keine Spur.

Auf der Uni wurde einem nichts nachgetragen, die Schule war im Vergleich dazu ein Tageshort gewesen. Meine zwischenmenschlichen Erfolgserlebnisse hielten sich in Grenzen. Wer mich kennt wird's vielleicht nicht glauben, aber ich hab's nicht so mit der Kontaktaufnahme. Im ganzen Studium hab ich aus eigenem Antrieb - soeben mit Erschrecken nachgezählt - nur vier Leute kennengelernt, mit denen ich noch ab und an Kontakt habe und die mir nicht von Freunden vorgestellt wurden. Man kann auch in eine Millionenstadt ziehen um dort allein zu sein. Über dreißig - großteils völlig sinnlose - Wikipediaartikel verdanken mir wohl auch deshalb ihre Existenz. Aber keine Angst, ich bin zwar ein komischer Kauz, aber keiner von der Sorte der eine Todesliste führt und Sie mit manischem Blick und einer abgesägten Schrotflinte besuchen kommt. Und ich verbitte mir im Übrigen jedes Mitleid. Sollten Sie mich näher kennen, wissen Sie, dass ich es nicht verdient habe. Außerdem bin ich Gefühlsduseleien grundsätzlich abgeneigt.

Ein Jahr verging, es kamen Schulfreunde nach Wien und die Zeiten wurden besser - wesentlich. Ich wurde ein leidenschaftlicher Politikwissenschafter und ein freudloser Jurist. Ich kann zwar kurzfristig Lerninhalte abspeichern, aber nicht auf Dauer, wenn sie mich intellektuell nicht tangieren.
Wenn einen Fragen der Diversionsfähigkeit von Delikten interessieren, aber Fragen der fehlenden Notwendigkeit der qualifizierenden Haupttätereigenschaft beim sonstigen Beitragstäter nicht, sollte man die Juristerei besser lassen. Das habe ich getan, lasse mich nun als zukünftigen Langzeitarbeitslosen verspotten und mir juristisches Halbwissen bescheinigen. Seis drum. Beinahe der Großteil der Studenten die ich kenne haben nach einem Jahr ihr Studium geschmissen und ein neues angefangen. Ich hab nur einen Abschnitt Jus gemacht und mich dann auf Powi konzentriert. Schande über mich und alle zukünftigen Taxifahrer!

Dabei kann ich nur den Wenigsten ihre Abneigung gegen dieses Pimperlstudium verübeln, das ich führe. Wow! Laura Rudas und Alfred Gusenbauer sind Politikwissenschaftler... auch so kann man den Ruf eines Wissenschaftszweiges ruinieren. Mit mir studieren Leute, die genau wissen, wie der kapitalistische Eurozentrismus in der postmodernen patriarchalen Konsumgesellschaft die sozialkritische neotrotzkistische Selbstentfaltung der lesbitrans-Frauenbewegung verhindert, die aber keine Ahnung haben, wie eine Bundesregierung gebildet wird oder welche Staaten der Europäischen Union angehören. Diskussionen mit Frauen, die drei Haarfarben und offensichtlich selbst gewebte Kleidung tragen, klingen oft wie der Abgesang einer dauerprotestierenden und realitätsentfremdeten Akademikergeneration, die mich dazu gebracht hat den Begriff links neu zu definieren. Aber auch anderswo sieht’s nicht besser aus... Ein Wahlfach auf der Geschichte hat mich gelehrt, dass selbst Hochschuldozenten nicht unbedingt den Vornamen von Karl Seitz - erstes republikanisches Staatsoberhaupt unseres Landes - kennen und auch mal Deutschösterreich mit Österreich verwechseln. Selbst die vielgerühmte Juristerei bleibt nicht davon verschont. Ein deutscher Rechtsgeschichteprofessor versuchte das volle Audimax davon zu überzeugen, dass der Bundespräsident in Österreich nicht vom Volk gewählt wird. Selbiger hielt dann bei der Parlamentsbesichtigung den Sitzungssaal des alten Abgeordnetenhauses für jenen des Bundesrates. Die knapp 450 Sitze Unterschied fielen ihm offensichtlich nicht auf. Das neue Hochschulgesetz - so der Herr Studienprogrammleiter Dvorak - habe dem "Bodensatz der deutschen Lehre" an österreichischen Universitäten Tür und Tor geöffnet. Der heimische Bodensatz ist jetzt wenigstens nicht mehr so allein...

Das wirklich Schöne beim Studieren war die Selbstbestimmtheit. Allen, die in einer modernen Krabbelschule namens Bologna-System das Laufen lernen müssen, an dieser Stelle mein aufrichtiges Mitleid. Ich durfte lesen und lernen was mir gefiel und konnte ein volles Politikwissenschaftsstudium hinter mich bringen ohne eine einzige Lehrveranstaltung zur Gender-Thematik besuchen zu müssen. Die - man verzeihe mir die Ausdrucksweise - ideologisch aufgespritzten Genderschnallen mit ihrer monokausalistischen Kapitalismuskritik durften mir auch in den übrigen Seminaren und Vorlesungen den Buckel runterrutschen. Wer glaubt, dass er die Welt verbessern kann, indem er den Staat als kriminelle Organisation abschaffen will, gehört nicht in eine Uni, sondern unter die Beobachtung der Staatspolizei. Nur Phrasen dreschende Akademiker können Themen wie soziale Gerechtigkeit und Emanzipation durch permanente Schwachsinnigkeit in den Dreck reiten. Genauso wie all jene die es für politisch korrekt halten, wenn es jemand der weder Englisch noch Deutsch in einem Ausmaß spricht, dass man mit ihm eine sinnvolle Unterhaltung führen kann, bis ins Diplomandenseminar schafft. Wer in Wien Politikwissenschaft studiert hat, hat nur meinen Respekt, wenn ich ihn oder seine Arbeit kenne. Die anderen sind prinzipiell zum wegschmeißen... im wissenschaftlichen Sinn natürlich.

Ich habe mit Kurden studiert, die allein den kapitalistischen Interessen der USA die Schuld am Afghanistankrieg gaben und mit einem schlagenden Burschenschafter von der FPÖ, der die Existenz der österreichischen Nation in Zweifel zog. Man könnte sage ich habe alles gesehen. Auch dass Vorlesungen für 350 Personen in Seminarräume für 55 stattfanden oder dass der Bibelprediger, den ich schon von der Wienwoche kannte, einen Hörsaal missionieren wollte, bis ihm der alte Prof. Tálos mit der Polizei drohte. Mein Rechtsgeschichteprüfer rechtfertigte in der Prüfung vor mir die Ausschaltung des Parlaments im Austrofaschismus und war dann Mitglied im Personenkomitee für Barbara Rosenkranz. Im Buch seines Kollegen las ich von der fast vollständig gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit im Nationalsozialismus. Die Schwiegertochter eines verstorbenen Altkanzlers bleibt immer ein, zwei Wochen länger im Urlaub, weil man sie nach ihrem Dienstvertrag aus dem Jahre Schnee praktisch in keiner Form belangen kann. Ein Prof. für Internationale Politik ist bekannt als ein wahrer Kapazunder auf dem Gebiet der Vereinten Nationen und dafür, dass er sich gern an Studentinnen heranmacht. So ist eben die Uni, auch nur ein Mikrokosmos.

Zumindest auf dem Gebiet der Studentenheimwissenschaft wurde ich in Wien zum Experten. Vier Heime und fünf verschiedene Zimmer habe ich in fünf Jahren hinter mich gebracht. Aus dem Loch im 20. Bezirk zog ich nach einem Jahr aus, lebte dann zwei Jahre mit dem schrecklich schnarchenden Wolfi in der Pfeilgasse im 8. Bezirk in einem Doppelzimmer, bis er sich eine Wohnung und ich mir ein Einzelzimmer leistete. Nach drei Jahren wurde das Heim - laut Portier ein ehemaliges Frauengefängnis - renoviert. Ich bat um ein Einzelzimmer in einem der anderen beiden Pfeilheime, beide mehrere hundert Plätze fassend. Da ich wusste, dass etwa 60-80% der Belegschaft jedes Jahr wechseln, dachte ich dass ich nach drei Jahren gute Chancen hätte. Weit gefehlt. Bei den Anmeldebögen für die Zimmer kann man freiwillig eine nicht näher definierte Vereinsmitgliedschaft angeben. Unter den Bewohnern katholischer Studentenheime ist weithin bekannt: Die besten Zimmer bekommt man, wenn man beim CV ist. Die fehlende Verbandsmitgliedschaft brachte mich in den 15. Bezirk. Zwei U-Bahnstationen hinter dem Westbahnhof - bis zu 40 Minuten Fahrzeit zur Uni. Im neuen Zimmer lag überall der Lurch. Für die nicht erfolgte Reinigung hatte ich 50€ bezahlt. Es dauerte mehrere E-Mails und Monate, bis man mir aus Kulanz die Hälfte erstattete. Das Internet stürzte ständig ab. Schließlich zog ich aus. Neues Heim, neues Glück... im 9. Bezirk lebt sich’s nicht nur zentraler sondern auch besser.

Trotz all meinen Umzugseskapaden bin ich - aus reiner Sentimentalität - Vorarlberger geblieben. Vom Land erhalte ich dafür keinerlei Förderung, andere Bundesländer gewähren sie. So hat mich mein Hauptwohnsitz in Feldkirch schon alleine 500 € mehr an Semesterticketgebühren gekostet. Das alles um den psychologischen Selbstbetrug aufrecht zu erhalten, dass man ja gar nicht in Wien zu Hause sei. Dabei geht mir der Großstadtsumpf sogar manchmal schon ab. Aus einem Vorarlberger einen Wiener zu machen, erscheint mir aber immer noch als Sakrileg. Wer den Refrain der Landeshymne mitsingt, sollte ihn auch ernst meinen.

Fünf Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Noch nie sind sie für mich so schnell vergangen wie die letzten und noch nie hat sich so viel verändert. Die Rohfassung meiner Diplomarbeit liegt beim Betreuer, ich hoffe die Note wird der Zahl der Jahre die ich darauf hingearbeitet habe nicht entsprechen.

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