Samstag, 20. November 2010

Die Vorarlberger II., oder: Die Geschichte eines unbekannten Volkes.

Nachdem der letzte Blogeintrag relativ gesehen der erfolgreichste war (über 1600 Hits in fünf Tagen) und ich auch bisher keine Gelegenheit für Effekthaschereien unterlassen habe, lege ich nun eine Fortsetzung nach. Da der letzte Beitrag recht lang ausgefallen ist, wollte ich ihn nicht noch überdimensionieren. Weil aber immer noch ein paar Geschichten in meinem Kopf herumgeistern, die mir erzählenswert scheinen, konzentrieren wir uns heute auf die vernachlässigte Historie der Vorarlberger, mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert.

Die Alemannen
Wo beginnt man mit der Geschichte eines Volkes? Keine Hebamme hat den Geburtstag Vorarlbergs festgehalten. Nie wurde entschieden ab heute sind wir Vorarlberger. Im Zusammenhang mit Vorarlberg wird aber viel von Alemannen/Alamannen gesprochen. Also beginnen wird bei ihnen.

Keiner weiß wer sie waren und niemand weiß woher sie kamen. So fangen mysteriöse Geschichten an, die der Alemannen ist eine solche. So um das 3 Jh. n.Ch. dürften sie wohl da gewesen sein, wo wir heute sind. Vielleicht waren sie Sueben, Elbgermanen, vielleicht aber auch nicht. Im Allgemeinen rechnet man sie den Westgoten zu. Sie waren die unmittelbaren germanischen Nachbarn der Romanen, die man heute Franzosen nennt, weshalb Deutschland im Französischen Allemagne heißt. Das war's dann auch schon.
Natürlich haben die Alemannen kein Niemandsland übernommen. Im heutigen Vorarlberg lebten Romanen, die zurückgedrängt bzw. assimiliert wurden. Sie haben uns eine ganze Reihe von Flurnamen hinterlassen (Piz Buin, Bregenz, Vandans, Batschuns, Tschagguns, Montafon etc.). Ihre Sprache verschwand aus Vorarlberg spätestens im 11. Jh.
Das Beste was uns die Alemannen hinterlassen haben, ist die Fasnacht [dr' Fasching]. Wenn's danach geht, hätten sie von mir aus an der Elbe bleiben können.

Das finstere Mittelalter
Die Geschichte des mittelalterlichen Vorarlberg en Detail aufzurollen, wäre sowohl zäh als auch zu umfangreich. Es sei erwähnt, dass die Mönche Gallus und Columban das Gebiet des heutigen Vorarlberg missionierten, dass es schließlich zu weiten Teilen an die Monforter, einer Seitenlinie der Pfalzgrafen von Tübingen, fiel und dann Stück für Stück mit allen Gerichten, Reichgrafschaften, Reichshöfen und Unabhängigen Herrschaften (zuletzt Blumenegg 1804) an die Habsburger ging.
In den Appenzellerkriegen wurde das Rheintal verwüstet. Die aufständischen Bauern und Bürger wurden am 13. Jänner 1408 bei Bregenz durch ein Ritterheer geschlagen. Es war die letzte echte Revolution, an der die Vorarlberger teilnahmen - noch bevor es sie eigentlich gab. Mittlerweile ist das Land so reaktionär, dass man meinen könnte, es fürchtet sich immer noch vor den Blechhanseln der Habsburger.

Die Montafoner schließlich verschafften sich Anfang des 15. Jh. ihr Wappen mit den Schlüsseln Petri, als sie Papst Johannes XXIII. mit seiner Sänfte aus dem Klostertal trugen, wo die Pest wütete. Wer bei Johannes XXIII. an den milde lächelnden Konzilspapst Angelo Roncalli denkt, hat sich aber geschnitten. Die Montafoner erhielten ihr Wappen von einem ehemaligen Piraten, der es bis zum Gegenpapst gebracht hatte, auf dem Konzil von Konstanz - wohin er reiste - aber abgesetzt wurde und daher von der katholischen Kirche nicht offiziell gezählt wird. Das stört die Montafoner - die als verstolen gelten - heute nicht im Mindesten und man sollte sich diesbezüglich auch nicht mit ihnen anlegen. Sie haben auch nicht gezögert mit der Landesregierung in Bregenz einen regelrechten Kleinkrieg  zu führen, als diese per Verordnung aus dem Montafon ein Montavon machen wollte.

Im Dreißigjährigen Krieg wurde auch Vorarlberg arg in Mittleidenschaft gezogen. Bekannt ist  aus dieser Zeit die Sage vom Klushund, der den anrückenden Schweden für das goldene Kegelspiel im Hohenemser Schloss einen Schleichweg nach Bregenz preisgab und seither zur Strafe für seine sündhafte Tat im Rheintal als Geisterhund spuken muss. Der begegnet einem angeblich besonders in finsteren Nächten und vor allem dann, wenn man sternhagelvoll nach Hause torkelt. Heute sieht man Landesverrat etwas unprätentiöser und eher durch die Augen des Strafgesetzbuches, als durch den Katechismus. 
Eine andere Sage - wohl die einzige feministisch angehauchte des Landes - berichtet davon, dass die Frauen von Alberschwende den Bregenzerwald vor den Schweden gerettet hätten, weil sie von diesen wegen ihrer weißen Tracht für Engel gehalten wurden, als sie im Kriegsgeschrei und mit Heugabeln bewaffnet die Heimat und ihre feigen Ehemänner verteidigten. Ob die Schweden wirklich nur deshalb die Flucht ergriffen bleibt fraglich. [A wüaschts Wieb isch da beschte Zu ums Hus.] Es heißt auch, die Bregenzerwälderinnen hätten deshalb das Recht erhalten die Kirche an Sonntagen vor den Männern zu betreten. Heute sind die Wäldertrachten schwarz, warum weiß auch keiner. Auf die Gefahr hin, dass morgen eine Horde Wälderinnen vor meiner Tür steht: Vielleicht vom vielen Putzen?

Die Reformation
Was können wir eigentlich aus der Geschichte lernen? Mehr als nur das Offensichtliche? Dass Verfolgung und Völkermord keine erstrebenswerten Zustände sind, vermag jeder zu erfassen, der nicht Mitglied im kürzlich nach dem Verbotsgesetz aufgelösten Verein „Motoradfreunde Bodensee“ oder ein frustrierter Exlandesstatthalter ist.
Geschichte kann mehr, aber dabei oft nur Erklärungsversuche liefern. Ein Beispiel:
Warum gilt Vorarlberg als so viel konservativer als der Rest Österreichs?
Die Reformation hat Vorarlberg und Tirol nie wirklich erreicht. Sie waren immer katholisch, es sind die einzigen beiden Bundesländer die nie protestantisch waren. Von Salzburg ostwärts hat erst die Gegenreformation die Lutheraner hinweggefegt. Irgendwo scheint sich das im kollektiven Gedächtnis eingegraben zu haben. Man ist östlich von Tirol zwar katholisch, aber nicht ganz freiwillig. In Vorarlberg waren die Protestanten immer schon so gern gesehen wie später die Sozis.  Es gab bedeutende Anhänger der Reformation in Vorarlberg. Doch bevor ihr Glaube Tiefenwirkung erreichen konnte wurden sie verfolgt und mussten das Land verlassen. Otto Bismarcks Großmutter etwa, war eine vertriebene protestantische Feldkircherin. 
Als die Handvoll Lutherischen, die es hierzulande noch gab, nach den rechtlichen Möglichkeiten von 1861 eine Kirche errichten wollten, schickte das Land eine Abordnung zu Kaiser Franz Joseph nach Wien, um dies zu verhindern. Aber sogar die apostolische Majestät, der Kaiser und König, war liberaler als seine Vorarlberger Untertanen. Er lehnte das Gesuch ab.

Die Franzosenkriege - Vorarlberg wird Vorarlberg
Etwas standfester verteidigten sich die Vorarlberger in den Franzosenkriegen. Napoleons Truppen erreichten Feldkirch in den späten Märztagen des Jahres 1799. Die Landwehr setzte den Franzosen erheblichen Widerstand entgegen [net lug lå] und besiegte sie in der Schlacht am Margeretenkapf am 23. März. General André Masséna musste sich der Taktik der Verteidiger (Tür auf - rausschießen - Tür zu) geschlagen geben und zog sich schließlich zurück. Die Stadt fiel erst am 14. Juli 1800 im erneuten Ansturm der Grande Armée.

Da waren die Vorarlberger dann auch schon Vorarlberger. Der Begriff ist nur ca. 230 Jahre alt und - das wurmt so manchen Superalemannen sicher - eine Fremdschöpfung aus Wien. Zumindest nimmt er aber Bezug auf die Sichtweise der Habsburger und befindet sich daher von deren Stammburg im Aargau gesehen vor dem Arlbergpass. Im Übrigen gibt es gar keinen Arlberg, nur den Pass, was ich persönlich ziemlich dämlich finde. Der Pass wiederum hat seinen Namen von einem Latschengewächs, den Arlen (lat. arula, weshalb Vorarlberg neo-latinisiert auch Cisarulana heißt). Da sich Vorarlberg aber dann doch besser macht als Hintermlatschenpassland, wollen wir es so belassen

Nach Napoleons Willen gingen Vorarlberg und Tirol an das mit Frankreich verbündete Bayern. So unangenehm die Besatzung für die Franzosen in Tirol gewesen sein muss, die Vorarlberger saßen die Sache zunächst lieber aus. Nur 1809 versuchten sie die Bayern rauszuschmeißen, unterlagen aber und mussten sich fügen, bis sie nach der napoleonischen Niederlage 1814 wieder vom geliebten Wien aus verwaltet wurden.

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit
Eine Hungerskatastrophe (1816-17) und ein paar Kriege später finden wir uns mitten im großen Völkergemetzel von 1914 bis 1918. Auch Vorarlberg hat tausende Soldaten am Isonzo, in Galizien und in der Bukowina für Gott, Kaiser und Vaterland verloren. Als der Krieg schließlich vorbei war und der Kaiser das Land verlassen musste, empfing ihn am Bahnhof Feldkirch eine laternisierte Strohpuppe [ufghängt honses] in K&K Uniform. Ob sich Eximperator Karl auch durch diese liebevolle Abschiedsgeste einiger sozialdemokratischer Eisenbahner zu seinem Feldkircher Manifest veranlasst sah, ist nicht überliefert. Jedenfalls verteufelte er darin die neue Staatsregierung und verließ Österreich in Richtung Schweiz. Das Kapitel Monarchie war damit auch für Vorarlberg beendet. Der Kaiser sah Österreich nie wieder.

Die eher ungloriösen Anschlussbestrebungen Vorarlbergs an die Schweiz habe ich hier schon einmal behandelt (Vorarlberg zur Schweiz? Oder: Kein Anschluss unter dieser Nummer). Dass sie nicht erfolgreich waren, sehen alle Vorarlberger heute in ihrem Pass. Dass es diesbezüglich immer noch ein paar Nostalgiker gibt, halte ich für unangebracht. Nach herkömmlicher Ansicht ist Nostalgie keine Vorarlberger Wesensart, weil nicht gewinnbringend.

Dass in der Zwischenkriegszeit die Christlichsozialen [d' Schwarza] das politische Vorarlberg dominierten wird niemanden überraschen. Jodok Fink (Bauer aus Andelsbuch und Vizekanzler) und Otto Ender (Landeshauptmann, Bundeskanzler und Experte für Verfassungsautokratie) sind immer noch Ikonen des Vorarlberger Konservativismus. Katholischer als der Papst und schwärzer als die Nacht gehörten auch der Antijudaismus [Hass uf d'Religion] bzw. Antisemitismus [Hass uf s'Volk] zu den Überzeugungen der Vorarlberger Christpolitiker:

Ender, Autor der austrofaschistischen Verfassung


„Der Jude wird nie ein Deutscher […]. Er ist und bleibt eben Jude und sollte von rechtswegen Bürger nur sein in Jerusalem.“ Otto Ender




Die Ausschaltung von Demokratie und Verfassungsstaat durch den Austrofaschismus juckte in Vorarlberg nur die Wenigsten. Aufgrund des akuten Mangels an Sozialdemokraten [d' Rota] musste man nicht einmal den Ausnahmezustand verhängen.

Die NS-Zeit
Die Nazis [d' Arschköpf] unterwanderten daraufhin auch in Vorarlberg die austrofaschistische Sammelbewegung „Vaterländische Front“. Das braunste Nest war Dornbirn. Die dort ansässigen Textilunternehmer sahen im Deutschen Reich einen enormen Absatzmarkt und förderten dementsprechend die illegalen Nazis. Nach dem Krieg wurden sie besonders weich entnazifiziert und blieben in Amt und Funktion. Dass die Dornbirner Messe nach dem Krieg in Dornbirn und nicht in Feldkirch angesiedelt wurde, ist etwa das Ergebnis alter brauner Seilschaften.

Für das Land kam mit dem Anschluss das Ende jeder Selbständigkeit. Vorarlberg wurde an Tirol angegliedert. Von den jüdischen Vorarlbergern überlebten die Nazizeit nur wenige.
Die Behörden des Ständestaates hatten bereits 1936 begonnen Listen anzufertigen die Personen nach dem Muster der Nürnberger Rassegesetze als Juden auswiesen. Eine solche Liste für die Einwohner von Bregenz wurde daraufhin der NS-Zeitung „Tagblatt“ zugespielt und von dieser mit der Forderung nach einer „Lösung der Judenfrage“ veröffentlicht. Im Kleinen Walsertal, das deutsches Zollanschlussgebiet war, war bereits 1937 jüdischen Personen von Gastwirten und Behörden der Aufenthalt verwehrt worden. Zum Zeitpunkt des Anschlusses zählte die jüdische Gemeinde von Hohenems 27 Mitglieder. Insgesamt wurden 1938 in Vorarlberg 104 Personen als Juden oder „Mischlinge“ eingestuft. Manche von ihnen wurden nach dem Anschluss sofort enteignet und deportiert, andere zunächst sukzessive aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen oder nach Wien zwangsumgesiedelt. Dadurch wurde Vorarlberg 1943 als „judenfrei“ erklärt. Als erster jüdischer Vorarlberger starb Alois Weil aus Hohenems noch 1938 in Dachau. Der Tod von 15 jüdischen Vorarlbergern gilt als geklärt, der Verbleib etlicher anderer ist bis heute unklar.

Nachdem die überlebenden Mitglieder der Kultusgemeinde in Hohenems auch nach 1945 wiederholt antisemitischen Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt waren, 1949 wurden Scheiben von jüdischen Häusern eingeschlagen und die Vorarlberger Nachrichten veröffentlichten antisemitische Artikel, verließen 1954 die letzte jüdischen Bewohner Hohenems. Ein Herr Egger [dr' klenne Emser mitam manischa Lächla] spielt mit seinen Sprüchen auf einer alten Vorarlberger Geige.

Als der Krieg schließlich nach Vorarlberg kam, wurde es nicht verschont [Håsch wealla, schleacksch d' Kella]. Feldkirch wurde am 1. Oktober 1943 bombardiert, weil Augsburg nicht angeflogen werden konnte und man Lazarette und Schulen für Kasernen hielt. Etwa 200 Menschen verloren ihr Leben. An der Front fielen etwa 8.000 Vorarlberger oder blieben verschollen. In den letzten Kriegstagen rückten die Franzosen aus dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg kommend in Richtung Vorarlberg vor. Für Bregenz war der Versuch gescheitert es zur offenen Stadt zu erklären, da es einen Durchzugspunkt zum Arlberg bildete und der zuständige Generalfeldmarschall Kesselring sich weigerte diesen räumen zu lassen. Daher wurde die Stadt am Abend des 30. April 1945 von französischen Einheiten unter Beschuss genommen. Dieser wurde am darauffolgenden Tag durch Tiefflieger fortgesetzt. Durch den Beschuss von Bregenz wurden zwei Zivilpersonen getötet sowie 72 Häuser zerstört und dadurch 700 Menschen obdachlos. Bregenz verdankt diesem Beschuss den wunderschönen Parkplatz am Seeareal. Die Franzosen wurden schließlich von Bregenzer Bürgern über Schleichwege in die Stadt geführt und vertrieben die dort verbliebenen deutschen Verbände. Ich bin mir relativ sicher, dass von diesen Bregenzern keiner als Klushund streunen muss.
Wehrmacht und SS zogen sich infolge unter kleineren Scharmützeln bis zum 6. Mai zum Arlberg zurück, den die meisten schließlich überquerten und sich den Amerikanern ergaben.

Voralberg und das braune Gedankengut
Nach dem Krieg wurden in Vorarlberg etwa 20.000 ehemalige Nazis registriert, das waren damals ca. 9% der Landesbevölkerung. Die Entnazifizierung der französischen Besatzung galt als die sanfteste. So mancher Vorarlberger profitierte davon und machte weiterhin Karriere. Ein Beispiel hierfür ist die Laufbahn des Dornbirner Industriellen Rudolf Hämmerle, der zwar einerseits Stadtrat der „Vaterländischen Front“, andererseits aber auch Unterstützer der illegalen Nationalsozialisten gewesen war. Von 1939 bis 1945 saß er für die NSDAP als „Ratsherr“ erneut im Dornbirner Rathaus, war dort ab 1950 wieder Gemeindevertreter für die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und saß von 1962 bis 1970 für diese im österreichischen Nationalrat. 

Die Landeseigene Geschichtsschreibung machte sich sofort daran das Geschehene zu relativieren. Die Vorarlberger NSDAP-Mitglieder wurden zu „guten Nazis“ umfunktioniert. Die Tatsache, dass Vorarlberg beim Anschlussplebiszit 1938 mit „nur“ 98, 1% die schlechteste Zustimmungsquote aller Bundesländer hatte, wurde als Beweis der alemannischen Zurückhaltung hochstilisiert. Die Bösen waren die anderen. Benedikt Bilgeri etwa schrieb in seinem Band „Geschichte Vorarlbergs V.“:
„Es ist aber durch Erfahrung erwiesen, daß dem Vorarlberger, seiner Art entsprechend, Gewalt wesentlich weniger liegt als vielen Deutschen und Österreichern. […] Die hysterische Hitler-Raserei der Ostmärker nach dem 13. März 1938 (,stolz sein ein Deutscher zu sein‘ bei jeder Gelegenheit) machte selbst die deutschen Parteigenossen betroffen, für den Vorarlberger war sie abstoßend. […] Ohne jeden Zweifel war es die geschlagene, zum Schweigen gezwungene Mehrheit, die sich an diesen Tagen in den Häusern versteckte oder nach Möglichkeit in Ried und Wald verschwand. Wehrlos aber gefaßt, erwarteten sie die hinterhältigen Überfälle der SS[…].“
Sollte jemandem von den Vorarlbergern jetzt statt Schamesröte ein Heiligenschein wachsen, lege ich ihm beflissentlich den historischen Schundroman Elmar Grabherrs ans Herzen (Grabherr, Elmar: „Vorarlberger Geschichte“, Bregenz: E. Ruß & Co. 1986.). Grabherr war wie Hämmerle ein Mustervorarlberger seiner Zeit. Er arbeitete für die Christlichsozialen, die Austrofaschisten, die Nazis und die ÖVP. Grabherr wechselte kurz vor Kriegsende zum „Widerstand“, war Sekretär des provisorischen Landesausschusses und schließlich als Landesamtsdirektor der oberste Landesbeamte Vorarlbergs. Grabherr war gefürchtet. Als einen der fachlich fähigsten Beamten seiner Zeit wollte man ihn nicht gegen sich haben. Seine Geschichtsklitterung veröffentlichte er 1986 nach seiner Pensionierung. Er war ein Anhänger des Panalemannismus [alle Alemanna in oan Staat] und sah die übrigen Österreicher mehr oder minder als Untermenschen. Dass er dieses Denken während der NS-Zeit noch in ganz andere Bahnen gelenkt hatte, verschwieg Grabherr später lieber:
„Es ist auch nicht mehr als recht, dass endlich auch mit den Juden abgefahren wird, die mit Ariern verheiratet sind, und deshalb bisher geschont wurden, denn es entspricht dem gesunden Volksempfinden, dass für die von den jüdischen Führern in Moskau, London und Washington gegen unsere Krankenhäuser und Wohnviertel begangenen Gräuel unsere Juden zur gesamten Hand haften. Dass es dabei im Einzelfall harte Szenen geben musste, ließ sich nicht vermeiden. Wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne.“
Grabherrs Evolutionslehre in einer Karikatur von Dieter Zehentmayr
Zu Grabherr gibt es mittlerweile eine Biographie, die recht fundiert sein dürfte. Was man dort vermutlich nicht findet, ist eine pikante Nebengeschichte. Ich erzähle sie weniger aus Tratschsucht, als aus dem Wunsch die Verlogenheit seiner Zeit aufzuzeigen: Elmar Grabherr war schwul [håt gschwizerlat]. Wie das mit solchen Dingen ist, weiß es jeder, nur halt nicht offiziell. Selbst Landeshauptmann Ilg wusste es. Ilg war Bauer und verließ sich in juristischen Dingen blind auf Grabherr [håt sich seal ned uskennt]. Ilg war aber auch Konservativer und konnte einen unverheirateten Landesamtsdirektor nicht dulden. Man suchte daher für Grabherr eine alte Jungfer, die man sonst nicht mehr angebracht hätte [an wüaschta Schmealg]. Es wurde geheiratet, der Landeshauptmann war zufrieden. Grabherr und seine Frau lebten in getrennten Wohnungen, dem öffentlichen Bedürfnis nach dem schönen Schein war Genüge getan.






  LH Ilg [mit Bärtle, isch abr koan Nazi gsi. Nur hüråta hot ma müassa.] 

Waren die Vorarlberger nun bessere oder schlimmere Nazis? Sie waren die gleichen Nazis wie die anderen auch. Josef Vallaster aus Silbertal tötete als SS-Angehöriger in Hartheim und Sobibòr. Vorarlberger haben auf verschiedene Weise Schuld auf sich geladen. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Vorarlberger Juden Vorarlberger waren, ebenso wie Provikar Karl Lampert, den die Nazis als ranghöchsten katholischen Geistlichen ins KZ steckten und ermordeten. Vorarlberg war in Sachen Nationalsozialismus wie Restösterreich ein Land von Verrätern und Verratenen. Nicht mehr, nicht weniger.

Die weitere Nachkriegsgeschichte
Nach dem Krieg beschränkte sich die Vorarlberger Landesgeschichte hauptsächlich auf die Auswüchse des Kampagnenjournalismus der Vorarlberger Nachrichten. Protest gegen das Atomkraftwerk Rüthi, Protest gegen das Bodenseeschiff Karl Renner, Protest gegen Wien mit Pro Vorarlberg. Die Bilanz war durchwachsen: Das Atomkraftwerk in Rüthi wurde nicht gebaut, wohl weniger wegen der anhaltenden Gegenstimmen aus Vorarlberg, als wegen der Antipathie der lokalen Schweizer Bevölkerung. Das Bodenseeschiff heißt heute Vorarlberg, weil die VN es vermochten ein Zehntel der Vorarlberger in die Werft nach Fußach zu beordern, um Verkehrsminister Probst mit Tomaten und tollen Slogans („Obst für Probst“) zu erwarten. Karl Renner war als sozialdemokratischer Ostösterreicher praktisch die verkörperte Nemesis des konservativen Durchschnittsvorarlbergers. Ein Bodenseeschiff nach ihm zu benennen war daher ein mehrfaches „no go“ [gåt ned] (siehe hiezu auch obig erwähnten Artikel). Auch die Sache mit Pro Vorarlberg ging mehr oder minder in die Hose. Wien lehnte Verhandlungen über eine erweiterte Autonomie für Vorarlberg schlichtweg ab. Als Volk, das gerade einmal 4,4% der Gesamtstaatsbevölkerung ausmacht, hat man auch keine sonderlich starke Verhandlungsposition.

Wo steht Vorarlberg heute? Da wo es immer war. Zwischen Rhein und Arlbergpass, zwischen Piz Buin und Bodensee. Wenn Konservativismus und Reaktion einen positiven Nebeneffekt haben, dann ist es Beständigkeit. Auf Vorarlberg ist verlass, im Positiven wie im Negativen. Das beruhigt die Nerven ungemein.

1 Kommentar:

  1. Die Zeitung die mit antisemitischen Artikeln in der Nachkriegszeit auf sich aufmerksam machte waren nicht die VN, sondern das Vorarlberger Volksblatt.

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