Dienstag, 25. Oktober 2011

Die Verspätete, oder: Eine kurze Geschichte der österreichischen Nation

„Marke Österreich“ - © Österr. Post AG
Jörg Haider nannte sie eine „ideologische Missgeburt“, Taras Borodajkewycz einen „blutleeren Literaturhumunkulus“ und für Otto Bauer war sie „ein aus Katholizismus, Habsburger-Tradition und feudaler Barockkultur zusammengebrauter Spuk.“ Die österreichische Nation ist ein von allen Seiten geschlagenes Kind, verhasst, verfemt, verspottet und trotzdem immer noch am Leben.

Als nach dem Untergang der österreichischen Monarchie die Umbenennung der ehemaligen „Hofbibliothek“ in „Nationalbibliothek“ anstand, wandten sich einige Beamte des Hauses an den damaligen Direktor Josef Donabaum, mit dem Hinweis, „daß eine ,österreichische Nation' nicht existiere, ja daß dieser Name sogar den künftigen Anschluß an Deutschland hemmen könnte“. Der höchste Bibliothekar der Republik vermochte ihre Ängste jedoch zu zerstreuen: 
„Daß keine besondere österreichische Nation existiert, darf ja wohl als weltbekannt angenommen werden.“ - Josef Donabaum
Für die erste Nachkriegsgeneration war die Lage klar: Österreich-Ungarn war untergegangen und mit ihm 90% des Staatsgebietes sowie 99% des weltweiten Ansehens. Der alte Kaiser war tot, der neue vertrieben, ihr Haus bedeutungslos. Die junge Republik war vom Namen bis zum Territorium ein alliiertes Konstrukt, zur bloßen Schwächung Deutschlands geschaffen. Man schrieb deutsch - vom Sprechen kann bei den meisten heute noch nicht geredet werden - also war man deutsch, Punkt. Schon in Art. 2 des „Gesetz[es] über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“ hieß es: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“ Ein Gesetz, das nie Geltung entfaltete. Unter den politischen Lagern der Ersten Republik, die sich sonst bei jeder Gelegenheit das Messer an die Kehle setzten, herrschte wahrscheinlich nur über dieses eine Thema Einigkeit: Österreich sollte der Weimarer Republik angeschlossen werden. Es ist auch in der Zweiten Republik nie der Versuch unternommen worden, den Zeitraum von 1918 bis 1934 im Sinne irgendeiner versuchten ideologischen Verselbständigung Österreichs zu interpretieren, es widerspräche ganz einfach den Tatsachen. Selbst der als Vater der österreichischen Verfassung von 1920 bezeichnete Hans Kelsen, ein ansonsten prosaischer Positivist, schrieb im Schlusswort zu seinem Buch „Österreichisches Staatsrecht“:
„Dennoch: [...] stärker als der aller Vernunft und Sittlichkeit hohnsprechende Verlauf der jüngsten Geschichte, deren Produkt das heutige Österreich ist, stärker als Österreich selbst ist sein Wunsch: aufzugehen im deutschen Vaterland.“ - Hans Kelsen
Ein Gutteil derjenigen, die wir heute als große Österreicher feiern, war vor allem eines: deutschnational. Lediglich kleine, vor allem monarchistische und kommunistische Gruppen konnten sich mit dem Gedanken an eine österreichische Nation anfreunden. Zwei wichtige Exponenten der österreichischen Nationalbewegung, wenn man den bunten Haufen denn so nennen möchte, waren Ernst Karl Winter und Alfred Klahr. Letzterer veröffentlichte 1937 einen Artikel „Zur nationalen Frage in Österreich“ in dem er zwar die nationale Eigenständigkeit Österreichs postulierte, das aber von einigen auch als stalinistisches Auftragswerk kritisiert wird. Letztendlich war Klahrs Motivation durchwegs politischer Natur:
„Heute ist der großdeutsche Gedanke reaktionär, heute sind die deutschnationalen Bewegungen nur Vorposten des Hitlerfaschismus, des Hauptfeindes des internationalen Proletariats, der internationalen Demokratie überhaupt. Daher müssen sie bekämpft, der Anschluss an Deutschland überall abgelehnt werden.“ - Alfred Klahr
Immerhin war schon der Gedanke an eine österreichische Nation für viele Gefahr genug. Nach der Machtergreifung Hitlers wurden die diplomatischen Vertretungen des Deutschen Reiches angewiesen in Zukunft nicht mehr von Österreichern, sondern dem „deutschen Volk in Österreich“ zu sprechen.  Die meisten Christlichsozialen hatten in ihrer diktatorischen Versuchsanstalt namens Ständestaat jedoch nie ein ernsthaftes Interesse an der Entwicklung eines österreichischen Nationalbewusstseins, nachdem sie 1934 die demokratische Verfassungsordnung gestürzt hatten. Als faschistoide Antipode zu Hitlers Diktatur wollten sie Österreich vielmehr als den „besseren deutschen Staat“ positionieren, ein Versuch der letztlich gründlich in die Hose ging.
Als beim Einmarsch der Wehrmacht am 12. März 1938 die ohnehin nur bei wenigen vorhandene Hoffnung auf eine andauernde österreichische Eigenständigkeit von deutschen Marschstiefeln zertreten wurde, gab auch die Regierung Schuschnigg w.o.. Er wolle, so der Bundeskanzler, „kein deutsches Blut vergießen.“ Unter der Nazi-Besatzung war an austriakische Eigenständigkeit gar nicht zu denken, auch wenn es jemand gewollt hätte. Nur zwei Institutionen durften den Landesnamen weiterführen, die „Österreichische Sparkasse“ und der „Österreichische Bundesverlag“. Was die frühe Idee einer österreichischen Nation betraf, so widerfuhr ihr das, wovor der spätere britische Premier Clement Attlee wenig später die Franzosen warnen sollte:
„Die Deutschen töten nicht bloß Menschen, sondern auch Ideen.“ - Clement Attlee
Auch wenn es im österreichischen Fall vielleicht eher Beihilfe zum Selbstmord war, die Nationsidee feierte ihre tatsächliche Auferstehung erst nach Kriegsende. Es wäre aber gelogen zu behaupten, dass dies eine bloße Folge der Moskauer Deklaration von 1943 gewesen seien, in der die Alliierten die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs beschlossen hatten. Vielleicht wäre es typisch österreichisch, aber es war nicht so und das ist einer der wenigen angenehmen Fakten in der so wechselvollen Geschichte dieses Nationskonstrukts. Als Wendedatum für die innere Einstellung der antinazistischen österreichischen Elite, die Großteils in Konzentrationslagern, Gefängnissen oder bestenfalls in Gauverbannung den Krieg überdauerte, wird häufig das Jahr 1942 genannt. Es war auch das Jahr, in dem sich ein gewisser Stimmungswandel in der Bevölkerung abzeichnete, nachdem der Vormarsch der erfolgsverwöhnten deutschen Wehrmacht und ihres völkermordenden Trosses vor Stalingrad ins Stocken geraten war.
Als die Niederlage absehbar wurde und die deutschen Sozialdemokraten  im Frühsommer 1943 bei ihren österreichischen Gesinnungsfreunden im Untergrund vorfühlten, wie denn die großdeutsche Lösung nach Hitler beizubehalten wäre, bekamen sie von Adolf Schärf, dem späteren Bundespräsidenten, zur Antwort:
„Der Anschluss ist tot. Die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden.“ - Adolf Schärf
Die Konservativen in Person von Lois Weinberger hatten schon ein Jahr zuvor Besuch von deutscher Seite erhalten und deren Ansinnen auf Beibehaltung des Anschlusses ebenso abgelehnt, wie die Sozialdemokraten. Als die Alliierten dann im Oktober desselben Jahres die Wiedererrichtung Österreichs beschlossen, taten sie dies nicht gegen den Willen der zukünftigen österreichischen Staatsführung.

Für die darauf folgende positive Entwicklung der österreichischen Identität in Richtung Eigenständigkeit können letztlich vor allem zwei Katalysatoren ausgemacht werden: der Krieg und der erfolgreiche Wiederaufbau. Wäre Hitler mit seiner Entourage nicht in die Feuer der Hölle hinab-, sondern siegreich in Moskau eingefahren, die politisch knetbare Masse der Österreicher wäre wohl geistig im Deutschtum hängen geblieben. Andererseits hätte sich ohne die positive Nachkriegsgeschichte nie ein Vertrauens- und damit Identifikationsverhältnis der Bevölkerung zu ihrem Staat, dem man in der Ersten Republik noch den Beinahmen „den keiner wollte“ verpasst hatte, entwickelt. Doch aller Anfang ist schwer und schließlich gaben erst zu Beginn der 60er bei Umfragen mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie Österreich für eine eigenständige Nation ansähen. Der Wert nahm in der Folge jedoch stetig zu und liegt heute bei um die 90%. Der Anteil der deklarierten Deutschnationalen sank derweil auf unter 5%.

Mit dem österreichischen Nation Building taten sich die Konservativen am leichtesten. Ihr Bekenntnis zum Österreichertum ging so weit, dass Unterrichtsminister Hurdes den Lehrgegenstand „Deutsch“ in „Unterrichtssprache“ umbenennen ließ. Das Österreichische Deutsch wurde in der Folge vor allem von rechter Seite als „Hurdestianisch“ verunglimpft. Bereits in seiner Regierungsansprache vor dem Nationalrat vom 21. Dezember 1945 erklärte der frisch ernannte erste Bundeskanzler der Zweiten Republik:
„Wenn wir immer wieder mit allem Fanatismus heimatverwurzelter Treue zu uns selbst betonen, daß wir kein zweiter deutscher Staat sind, daß wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren noch werden wollen, sondern daß wir nichts anderes sind als Österreicher, dies aber aus ganzem Herzen und jener Leidenschaft, die jedem Bekenntnis zu seiner Nation innewohnen muß, dann ist dies, keine Erfindung von uns, die wir heute die Verantwortung für diesen Staat tragen, sondern die tiefste Erkenntnis aller Menschen, wo immer sie auch stehen mögen.“ - Leopold Figl
Am schwersten mit dem österreichischen Nationalbewusstsein taten sich - abgesehen von den Deutschnationalen natürlich - die Sozialdemokraten. Friedrich Adler, der Sohn Viktor Adlers, wollte von seiner deutschnationalen Einstellung keine Abstriche machen. Er kritisierte die seiner Meinung nach „ebenso reaktionäre wie widerliche Utopie einer österreichischen Nation“ und musste daher nach '45 im Schweizer Exil bleiben. Der politische Dehnungskünstler Karl Renner hingegen, der noch 1938 den Anschluss begrüßt hatte, machte 1946 eine ideologische Kehrtwende:
„Der Österreicher ist im strengen Wortsinn kein deutscher Stamm. Seine Eigenart unterscheidet ihn von allen deutschen Stämmen [… unser Volk besitzt so eine ausgeprägte und von allen anderen verschiedene Individualität, dass es die Eignung und auch den Anspruch dazu hat, sich zu einer selbständigen Nation zu erklären.“ - Karl Renner
Die eigentliche Krux der österreichischen Nationswerdung ist, dass nach wie vor viele am Herder'schen Modell der Sprach- manche sogar der Blutsverbundenheit festhielten. Eine deutsche, französische oder russische Nation genetisch zu belegen ist ebenso unmöglich, wie eine österreichische aufgrund der Tatsache zu leugnen, dass sie sich mit drei Nachbarstaaten die Grundsätze der Sprache teilt. Nach dieser Vorstellung müssten Kroaten Serben, US-Amerikaner Engländer und Brasilianer Portugiesen sein. Man kann nicht mit altem Mörtel neue Häuser bauen: Ein Österreichbewusstsein, dass auf Blut- und Bodenideologien basiert wäre genauso widerwärtig wie jedes andere.
„Österreich kommt immer eine Stunde, eine Schlacht und eine Idee zu spät.“ - Napoleon
Hatte die Linke nach '45 noch Probleme sich vom Deutschnationalismus zu lösen - eine Katharsis, die die FPÖ bis dato nicht vollbracht hat - ist sie heute in Teilen aus internationalistischen Gründen antiösterreichisch. Gruppierungen, die Aktionen wie den „Antinationalfeiertag“ oder „Still not loving Austria“ betreiben stürzen sich vor lauter Inklusionssucht in einen dekonstruktivistischen Hassdiskurs, in dem sie alles Übel dieser Welt auf ihre Nation schieben. Eine bloße Konstruktion sei diese, so sagen sie, und damit haben sie auch völlig Recht. Nur, Konstruktionen sind auch der Internationalismus und die Menschenwürde. Die österreichische Nation als postfaschistisches Entlastungssyndrom zu verkaufen, das einige nutzen um ihren Fremdenhass zu kaschieren, ist nichts anderes als die Steinigung eines ideologischen Sündenbockes. Da wird dann auch gern nach ganz harten Parolen gegrapscht:
 „Die Idee der Nation bleibt immer scheiße.“ - antinationalfeiertag.wordpress.com
Anstatt, dass man versucht die österreichische Nation als ein inklusives Modell von Zusammengehörigkeit zu bewerten und dieses gegen den rechten Rand zu verteidigen, wird dümmlich darauf herumgehackt, als könnte man den eigenen Frust auf ein stagnierendes Staatswesen damit abbauen. In Wirklichkeit greifen die Möchtegernweltverbesserer jedoch selbst auf das Konzept zurück, wenn sie in Verübung diverser Ruhestörungsdelikte „Volxküchen“ errichten. Das „x“ alleine macht noch keine Revolution und trotz manischer Abgrenzung zu allem was auch nur ansatzweise nach Ancien Régime riechen könnte, wird mit der Begriffsverwendung ein kollektivistischer Ansatz implementiert. Zu blöd nur, dass man Nation nicht mit „x“ schreiben kann.

Man könnte sich über die österreichische Identität auf hunderten Seiten auslassen: Über das Verhältnis zu Deutschland, das stetig zwischen Emanzipation, Anbiederung und Minderwertigkeitskomplex schwankt, den Lokalpatriotismus in den Bundesländern oder die Tatsache, dass die FPÖ mit rot-weiß-roten Fahnen Werbung macht und trotzdem deutschnational bleibt. Ausstellungen gab es zum Thema - sogar in Deutschland („Verfreundete Nachbarn“) - und Sachbücher wurden in Massen aufgelegt („Der Kampf um die österreichische Identität“, „Ist Österreich ein Deutsches Land?“ etc.). Otto Bauer und sein schnulziges Nationskonzept sind unerwähnt geblieben („die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen“) ebenso - schon beinahe schändlich in diesem Zusammenhang - der große Apologet des Österreichertums Friedrich Heer.
Literatur könnte man aufzählen noch und nöcher, in denen sich sowohl Basis als auch Spitze des österreichischen Schriftstellertums das Identitätsproblem ihres Landes, das auch ihr Identitätsproblem war und ist, von der Seele schrieben: von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über Roths „Radetzkymarsch“ bis hin zu Bernhards „Heldenplatz“. Jelinek, Artmann, Doderer, Jandl, keiner konnte am erdrückenden Koloss seiner Herkunft vorbei, den viele von ihnen als Stein um den Hals empfanden. Österreich ist grundsätzlich ein Land, in dem es nie genug Psychiater wird geben können.
 „Das Fette, an dem ich würge: Österreich.“ - Peter Handke
Mittlerweile wird an den Schulen zwar wieder Deutsch unterrichtet, wenn auch mit mäßigem Erfolg, es gibt aber ein „Österreichisches Wörterbuch“. Die „Deutsche Volksoper“ heißt jetzt „Volksoper“ und die „Nationalbibliothek“ „Österreichische Nationalbibliothek“. Ob deren heutiger Selbstbeschreibung würde ihre ehemalige deutschnationale Belegschaft aber wohl im Grabe rotieren:
 „Erst nach 1945 also konnte die Österreichische Nationalbibliothek  im Einklang mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Landes zu einem identitätsstiftenden Symbol der Österreichischen Nation werden.“ - ÖNB
Schlussendlich kann man über die österreichische Identität vor allem das sagen: Sie ist angenehm diffus und unaufdringlich sowie insgesamt viel zu widersprüchlich, schwammig und nebulös als dass irgendetwas an ihr deutsch sein könnte. Österreich sucht noch immer nach sich selbst und wird wohl auch nie damit aufhören einen nationalen Intensivdiskurs um die Intensität der Nation zu führen.
Die Post hat kürzlich nach einem Wettbewerb eine Marke zur „Visualisierung der österreichischen Identität“ herausgegeben. Sie zeigt ein Fernrohr, das auf wolkenverhangene Berge blickt. In welche Richtung genau? Wahrscheinlich zurück.


„Doch bange machen gilt nicht bei einer Nation, die zu allem, was ihr mißlingt, auch das Pech hat, nicht untergehen zu können.“ - Karl Kraus

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