Dienstag, 7. Juni 2011

Die Grenzen dicht, oder: Quo vadis Europa?

Und dann ausgerechnet die Dänen. Welches Land in der EU könnte man als liberaler, freier und demokratischer bezeichnen, mit Ausnahme Schwedens und der Niederlande vielleicht, als Dänemark? Und plötzlich macht es die Grenzen dicht. Kriminalität, so der „Minister for flygtninge, indvandrere og integration“ Søren Pind, sei der Grund für diese Maßnahme und er verstehe die Aufregung darüber nicht, schließlich sei alles Schengen-konform. Nun gut, die Dänen sind politisch sowieso etwas komisch drauf könnte man sich denken. Minderheitsregierungen gehören zum parlamentarischen Einmaleins und die Partei die sich „venstre“, also „Linke“ nennt, gewinnt Wahlen mit Antiausländerparolen. Auch Migrationsminister Pind ist so ein „Linker“, genauso wie der dänische Ministerpräsident Rassmusen. Und weil Schleswig-Holstein ja bekanntlich ein Hort der Kriminalität ist, kann man gut verstehen, dass die Grenzen dorthin wieder dicht gemacht werden, zumindest in Dänemark.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass Königin Margrethes Regierung gerade jetzt auf diese Idee verfällt. Wenn man ein Anhänger des extremen Kausalismus ist, könnte man sagen, dass der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi daran schuld ist. Immerhin hat der sich nach der Beschlagnahmung seines Gemüsestandes selbst verbrannt, woraufhin zuerst seine Entourage, dann die ganze Stadt und dann ganz Tunesien auf die Straße gegangen ist. Das wiederum hatte den Sturz des allseits beliebten Langzeitdiktators Ben Ali zur Folge, was eine revolutionäre Kettenreaktion im nordafrikanisch-arabischen Raum und unter anderem den libyschen Bürgerkrieg auslöste. Seitdem stranden wöchentlich hunderte Flüchtlinge an der Küste der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa oder werden - falls man sie nicht „übersieht“ - von NATO-Schiffen aufgelesen. Italien verfügt bekanntlich über einen äußerst fähigen, integeren und seriösen Ministerpräsidenten, der das Flüchtlingsproblem einfachstmöglich gelöst hat, nämlich durch die Ausstellung von Schengen-Visa. Berlusconi weiß nämlich, dass die meisten Flüchtlinge nach Frankreich, Großbritannien oder Deutschland weiter wollen. Die Franzosen wiederum haben ein gewisses Interesse, dass nicht Hundertschaften von Nordafrikanern den heimischen Arbeitsmarkt bereichern, also stoppen sie die Flüchtlingszüge aus Italien, bevor sie in Nizza ankommen. Das wiederum ist nicht Schengen-konform, weil permanente Grenzkontrollen nicht und begrenzte nur in Ausnahmefällen erlaubt sind:
„Wenn die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit es indessen erfordern, kann eine Vertragspartei nach Konsultation der anderen Vertragsparteien beschließen, dass für einen begrenzten Zeitraum an den Binnengrenzen den Umständen entsprechende nationale Grenzkontrollen durchgeführt werden. [...]“ Art. 2 Abs. 2 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen
Nun mögen Wirtschaftsflüchtlinge vieles sein, aber im derzeitigen Ausmaß kaum eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit. Wenn sie Kriminelle wären, könnten sie ja gleich in Italien bleiben. Außerdem kann man unter Konsultation einiges verstehen, aber schwerlich ad-hoc-Zugstoppungen. Die Franzosen wollen nun wieder unter bestimmten Umständen Grenzkontrollen durchführen dürfen und werden darin seltsamerweise von den Italienern unterstützt, die den ganzen Schlamassel ja erst ausgelöst haben. Nun haben die Dänen natürlich die Gunst der Stunde erkannt und genutzt. Hätten sie ein paar Monate zuvor die Balken runtergelassen, die Kommission hätte sofort mit einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht, die restlichen Mitgliedsstaaten hätten sich bestürzt gezeigt. So wird zu einem Zeitpunkt, zu dem die Rechtsnorm „Schengener Abkommen“ zumindest zum Teil infrage gestellt ist, dem europäischen Rechtsstaat - unter gleichzeitiger Duldung der meisten anderen Mitgliedstaaten - das Messer in den Rücken gedrückt.

Die Geschichte ist vor allem aber auch deshalb bemerkenswert, weil sie einen Nationalisierungsschritt darstellt, also einen möglichen Übergang von vereinheitlichten Regelungen zu einzelstaatlichen Maßnahmen. Bisher kannte man im europäischen Integrationsprozess ja nur die andere Richtung.

Da stellen sich natürlich gleich ein paar Fragen: Wird jetzt wieder dezentralisiert? Wird die Union zum Staatenbündchen degradiert? oder etwas umfassender: Wohin geht Europa? Ja, wenn ich Ihnen das jetzt beantworten könnte... König der Politikwissenschafter würde man mich nennen, einer Disziplin die sich nicht einmal darauf einigen kann, ob die EU zurzeit nun ein Bundesstaat oder ein Staatenbund ist und deshalb den supertollen „Staatenverbund“ erfunden hat. Die Politikwissenschaft neigt ja generell sehr gerne zu begrifflichen Verlegenheitslösungen man denke an die Definition Russlands als „Demokratur“. Da kann man sich gern austoben und Österreich als „föderozentristisch“, Schweden als „Republarchie“ und Theodor zu Guttenbergs Doktorarbeit als „fahrlässige Täuschung“ bezeichnen. Geholfen wird damit keinem. Die Juristen sind da etwas prosaischer, bei ihnen ist die Union einfach ein Gebilde „sui generis“. Weniger kreativ, aber genauso aussagekräftig wie „Staatenverbund“. Für das was die EU mal werden soll hat weder die politikwissenschaftliche noch die juristische Wissenschaftsgemeinschaft passende Worte. Wie sollten sie auch? Schließlich wissen die europäischen Politiker selbst nicht, in welche Richtung sie ihren staatsrechtlichen Homunculus weiterlenken wollen. „Die Finalität der EU ist weiterhin offen.“ heißt's dann oft so schön. Blablabla... 

Fragen wir uns einmal was wünschenswert ist: Wollen wir einen europäischen Einheitsstaat mit Zentrale in Brüssel? Das Ansinnen würde wohl wenige Anhänger finden. Nicht nur, dass die Zentralisierung von 27 Staaten mit eigenen Sprachen, Rechtssystemen und nicht zuletzt Machterhaltungstrieben geradezu unmöglich sein dürfte, je größer ein Staat wird, desto undemokratischer ist er, wenn dem nicht mit föderalen Komponenten gegengesteuert wird. Föderalismus bricht Demokratie auf mehrere Ebenen, das ist eigentlich das Sinnvollste was er tut.
Wollen wir einen europäischen Bundesstaat? Die Frage ist schon wesentlich schwerer zu beantworten. Stellen wir daher zunächst eine andere: Was unterscheidet den Bundesstaat vom Staatenbund? Wenn ich das verknappt darstellen darf: Aus einem Bundesstaat können die Teilstaaten nicht ohne Erlaubnis des Bundes austreten, aus einem Staatenbund schon. Der Bundesstaat kann von seinen Gliedern auch nicht mehr aufgelöst werden, der Staatenbund schon. (Bitte betrachten Sie das aber bitte nicht als allgemeingültige Definition von Bundesstaatlichkeit, es gibt hunderte und diese ist meine persönliche.)
Wollen wir also ein Gefüge, aus dem wir nicht mehr rauskönnen oder eines, das wir auch wieder mit Pauken und Trompeten verlassen dürfen? Das ist eigentlich reine Geschmackssache. Beide Varianten haben Vor- und Nachteile. Der Bundesstaat garantiert ein Mindestmaß an Rechtseinheitlichkeit und kann notfalls den sogenannten „Bundeszwang“ einsetzen. Renitente Mitgliedsstaaten könnten sich dann nicht mehr nach Belieben daneben benehmen. Der Staatenbund hingegen gibt uns die Möglichkeit das Handtuch draufzuhauen, sollte sich die EU einmal in eine Richtung wenden, die uns gar nicht mehr zusagt.

Es heißt ja so schön „drum prüfe, wer sich ewig bindet.“ Dahingehend kann ich dem staatenbundlichen Prinzip mehr abgewinnen, auch wenn es nur mit dem good will der Teilnehmer funktioniert. Beispiel: Ein Bundesland hat Schulden beim Bund und zahlt sie nicht. Ein Gericht spricht dem Bund das Geld zu, das Land zahlt immer noch nicht. Der Bund wird sich die Summe holen bzw. beim nächsten Finanzausgleich einfach weniger überweisen. Anderer Fall: Österreich verletzt eine EU-Bestimmung, der EuGH verurteilt uns zu einer Strafzahlung, Österreich zahlt aber nicht. Welche EU-Polizei, welche EU-Armee oder welcher EU-Finanzausgleich könnte einen Nettozahler wie Österreich zum Überweisen zwingen? Die einzig mögliche Konsequenz wäre der endgültige Rausschmiss. Das will natürlich keiner riskieren, denn das käme dem wirtschaftlichen Ruin gleich, also zahlen alle brav. Garantien dafür, dass das immer so sein wird, gibt es aber keine.

Unter dem Gewicht des politischen Alltagsgeschäfts geht oft der Sinn für die absolute Einmaligkeit der europäischen Einigung verloren, deshalb sei darauf hingewiesen: Dass 27 Staaten einen einheitlichen Markt, einen Gerichtshof, ein Parlament, eine gemeinsame Gesetzgebung, zum Teil auch eine einheitliche Währung und offene Grenzen haben, das hätte sich vor hundert Jahren wohl kaum jemand träumen lassen. Nicht nur friedliche Koexistenz, sondern intensive Zusammenarbeit, was für ein historisches Wunder. Die Europäische Union mag von ihren wirtschaftlichen Vorteilen leben, gegründet wurde sie aber im Gedenken an die Kriege, die unseren Kontinent verwüstet haben.
Es mag ja ärgerlich sein, wenn ein Flensburger in Sønderborg ein Fahrrad stiehlt, aber deshalb die EU infrage stellen? Bitte nicht.

„EINGEDENK der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen“ aus der Präambel zum Vertrag über die Europäische Union

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