Donnerstag, 29. Mai 2014

Der Streit um Juncker, oder: Der Kampf der Institutionen

Nach der Europawahl bahnt sich zwischen Parlament und Europäischem Rat ein Machtkampf um die Person des Kommissionspräsidenten an. Der Ausgang des Kräftemessens hängt maßgeblich von den Überlegungen des konservativen Spitzenkandidaten Jean Claude Juncker ab und wird entscheidend für die demokratische Glaubwürdigkeit der Union sein.

Margret Thatchers Position war klar: Das Europäische Parlament als Abgeordnetenkammer, den Rat als Senat und die Kommission als Regierung zu sehen, wäre völlig inakzeptabel. „No, no, no!“ verkündete sie am 30. Oktober 1990 vor den Commons im Londoner Unterhaus. Anders als Labour wolle sie auch nichts von einer gemeinsamen Währung wissen.
24 Jahre und etliche Vertragsänderungen später hat der britische Skeptizismus gegen Brüssel unter Thatchers Erben David Cameron kaum abgenommen. Durch den Erfolg der United Kingdom Independence Party (UKIP) bei der Europawahl steht der ohnehin nicht gerade proeuropäische Premier noch zusätzlich unter dem Druck, Souveränitätsrechte zurück nach Westminster zu holen. Eine Zuspitzung des britischen Eurokritizismus hin zur Blockadepolitik scheint absehbar. Das erste Opfer dieser Entwicklung könnte nun der Spitzenkandidat der bei der vergangenen Wahl siegreichen Europäischen Volkspartei (EVP), Jean Claude Juncker werden. Cameron lehnt seine Nominierung als Präsident der Kommission ab. Dabei dürfte es nicht nur um die Person des ehemaligen luxemburgischen Premiers, der als ausgesprochener Proeuropäer gilt, gehen. Die Vorstellung, dass der Kommissionsvorsitzende aus einer europaweiten Wahl hervorgehen könnte, stößt vielen Europaskeptikern, von denen etliche jahrelang selbst das Demokratiedefizit der Union gebetsmühlenartig beklagt haben, sauer auf.

Die institutionellen Bruchlinien im EU-Vertragswerk komplizieren die Bildung einer neuen Kommission unter diesen Umständen zusätzlich. Durch den Vertrag von Lissabon hat sich die EU weiter vom Präsidentialismus hin zum Parlamentarismus entwickelt. Der mit einem kollektiven Staatsoberhaupt vergleichbare Europäische Rat schlägt dem Parlament den Kommissionspräsidenten zur Wahl vor und hat dabei das Ergebnis der vorangegangenen Europawahl zu berücksichtigen. Art. 17 EUV sieht dafür zwar nur eine qualifizierte Mehrheit vor, einstimmige Entscheidungen haben im Gremium der Staats- und Regierungschefs jedoch eine lange Tradition. Zudem ist der britische Premier nicht der einzige, der Juncker skeptisch gegenüber steht. Auch der ungarische Ministerpräsident Orban lehnt den als Europaföderalisten verschrienen Luxemburger ab. Camerons Versuch, eine Sperrminorität im Europäischen Rat zustande zu bringen, dürfte bislang zwar gescheitert sein, dennoch zögern die übrigen Staats- und Regierungschefs einen Kommissionspräsidenten per Kampfabstimmung ins Amt zu bringen. Zu groß könnte das Zerwürfnis zwischen diesem und den Regierungen sein, die ihn ablehnen. Zudem könnte im Vereinigten Königreich die Bestellung einer Kommission Juncker den EU-Austrittskräften zusätzlichen Aufwind verleihen.

Auf der anderen Seite steht mit dem Europäischen Parlament ein mit den Jahren immer selbstbewusster gewordener Machtfaktor. Selbst die Sozialdemokraten, die mit Martin Schulz einen eigenen Kandidaten aufgestellt hatten, wollen einen Alleingang der Staats- und Regierungschefs in Sachen Kommissionspräsident nicht akzeptieren. Die scheidenden Fraktionschefs haben Juncker daher mit der Sondierung einer Mehrheit im Parlament beauftragt. Dieser Regierungsbildungsauftrag ist in den Verträgen nirgendwo vorgesehen und zeigt den Willen der Europaabgeordneten ihren Kandidaten unter allen Umständen durchzubringen. Das Scheitern eines Gegenvorschlages an ihrem Veto scheint gegenwärtig gewiss, was die Gefahr mit sich bringt, dass Europäischer Rat und Parlament sich bei der Ernennung der Kommission auf Dauer gegenseitig obstruieren.

In dieser Situation hängt vieles von den Entscheidungen Jean Claude Junckers selbst ab. Stützt er sich auf die breite Unterstützung im Parlament und besteht auf seiner Nominierung durch den Rat, riskiert er entweder die gegenseitige Blockade der EU-Institutionen oder eine Amtszeit mit vorprogrammierter Fundamentalopposition einiger Mitgliedsstaaten. Als Ausweg böte sich die Nominierung Junckers als nächster Ratspräsident an, die im November erfolgen könnte. Dadurch würde er einerseits sein Gesicht wahren und gleichzeitig den Weg für einen Kompromisskandidaten öffnen. Der große Nachteil einer solchen Lösung wäre allerdings offenkundig: Die Kür der Spitzenkandidaten für die Europawahl verkäme nachträglich zur Farce und der demokratiepolitischen Glaubwürdigkeit der EU-Institutionen würde ein kaum gutzumachender Schaden zugefügt.

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