Freitag, 22. Juli 2011

Der Fall Golowatow, oder: Ein kleiner beschissener Haftbefehl.

Die Litauer sind sauer, um nicht zu sagen stinksauer. Die Staatsanwaltschaft Wien hat den ehemaligen KGB-Offizier Mikhail Golowatow, der für ein Massaker während der litauischen Revolution 1991 verantwortlich gemacht wird, nach kurzer Anhaltung und trotz eines aufrechten Europäischen Haftbefehls wieder freigelassen. Eine Intervention Moskaus steht im Raum, von Inkompetenz der österreichischen Behörden ist die Rede. Der Vorsitzende des Außenausschusses des litauischen Parlaments sprach davon, dass Österreich seinem Land „ins Gesicht gespuckt“ hätte. Der Politikwissenschafter Vladimiras Laucius meinte gar Österreich sei „ein beschissenes kleines Land“.

Litauische Geschmacklosigkeit mit mangelndem historischen Hintergrundwissen (1938?)
Die Stimmung kocht zurzeit über an der Ostsee. Aber warum? In den Zeitungen der südlichsten Baltenrepublik kursieren Karikaturen in denen die aktuellen Vorkommnisse mit jenen des März 1938 auf höchst unschöne Art verglichen werden. In den Straßen von Vilnius werden rot-weiß-rote Fahnen mit Hammer und Sichel (aber ohne Adler) geschwenkt, der litauische Außenminister Audronius Azubalis meint, Österreich habe den Ratko Mladic des Baltikums laufen lassen. Am Ende schossen die Argumente hin und her, Stellungnahmen wurden Abgegeben, Solidaritätsbekundungen getätigt und Botschafter abgezogen. Es war als säße man in einem 3D-Kino in der zweiten Reihe und versuche der Handlung zu folgen.
Der gesuchte Golowatow hat 14 Tote zu verantworten, die bei einer von ihm geleiteten Kommandoaktion gegen die litauische Protestbewegung am 13. Jänner 1991 ums Leben kamen. Golowatow war der stellvertretende Kommandant der sowjetischen Spezialeinheit Alfa und leitete die Erstürmung des, von Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung besetzten, Fernsehturms der litauischen Hauptstadt. Das Massaker ging als „Vilniusser Blutsonntag“ in die Geschichtsbücher ein. Für die Litauer ist dieses Datum so traumatisierend wie für die Österreicher der 12. März 1938, nur dass sie wirklich die Opfer waren. Zur Erinnerung an diesen Tag werden Münzen geprägt und Briefmarken herausgegeben. Für einen Durchschnittsösterreicher waren die Ereignisse um den Fernsehturm einer baltischen Stadt in der Größe von Graz aber bis dato wohl kaum ein Begriff.

Doch galt dies auch für die Staatsanwaltschaft Wien, die noch vor dem Verstreichen der möglichen 48-Stundenfrist die Enthaftung Golowatows anordnete? War es schlichte Unwissenheit, politischer Druck aus Mosklau oder doch reine Gesetzestreue, die zur Freilassung eines gesuchten Kriegsverbrechers durch die österreichischen Ermittlungsbehörden führte? 

Nach österreichischem Recht hat grundsätzlich die Staatsanwaltschaft mit gerichtlicher Bewilligung Festnahmen durch die Kriminalpolizei anzuordnen. Für Rechtshilfegesuche des Auslandes ist gleichfalls die Staatsanwaltschaft zuständig. Hat sie die Festnahme einer Person - mit Bewilligung eines österreichischen Gerichts, auch auf Ansuchen einer ausländischen Behörde - angeordnet, bleiben ihr 48 Stunden, um sie in die nächste Justizvollzugsanstalt zu überstellen und sie damit in die Obhut der Gerichtsbarkeit zu übergeben. Diese entscheidet dann über Untersuchungshaft oder Freilassung. 
Im vorliegenden Fall lag zwar ein europäischer Haftbefehl gegen den Gesuchten vor, da die inkrimierte Tat jedoch vor der Einführung dieses Rechtsmittels gesetzt worden war, behielt sich Österreich vor nach den davor geltenden Regeln zu verfahren. Von Litauen wurde daher eine Begründung für den Haftbefehl verlangt, eine Forderung, der es nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkam. Dass die Frist den zeitlichen Spielraum der Staatsanwaltschaft, besagte 48 Stunden, nicht ausschöpfte ist ein Hauptkritikpunkt all jener, die in dieser Sache noch fähig sind rationale Überlegungen geltend zu machen. Dass Golowatow selbst nach der Erlassung des Europäischen Haftbefehls im Oktober 2010 acht Mal in die EU eingereist und hiefür von Finnland 2009 mit einem Schengen-Visum ausgestattet worden war, erzürnte die Gemüter in Litauen keineswegs so sehr wie die einige Stunden unter dem Möglichen gelegene Haft in Österreich. Ganze fünf Mal kam Golowatow seit seiner Fahndungsausschreibung nach Suomi. Die Tschechen, die der mutmaßliche Massenmörder zweimal mit seiner Anwesenheit beehrte wurden in den Straßen von Vilnius ebenso wenig ausgebuht wie Zypern, in das er einmal einreiste. Das mag auch damit zusammenhängen, dass diese Umstände erst später bekannt wurden, nachdem sich die öffentliche Empörung bereits voll und ganz auf das österreichische Vorgehen eingeschossen hatte. Die Tatsache, dass sich das angesprochene Massaker heuer auch noch zum zwanzigsten Mal jährte, kann ebenso zur Aktualität und Emotionalität der Affäre beigetragen haben.

Bleibt die Frage nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen einer russischen Einflussnahme. Österreich steht in engen und sehr ambivalenten Beziehungen zum größten Staat der Erde. Einerseits sind die Wirtschaftsverflechtungen mannigfaltig und intensiv - aus dem österreichischen Wintertourismus sind die Gäste aus Russland nicht mehr wegzudenken - andererseits kommt es immer wieder zu politisch heiklen Situationen. Die Ermordung eines tschetschenischen Dissidenten in Wien - mutmaßlich auf Betreiben des dortigen Potentaten Ramsan Kadyrow - ist, ebenso wie das Vorhandensein einer relativ großen tschetschenischen Diaspora in Österreich überhaupt, ein stetiger Reibungspunkt in den Beziehungen zu Moskau. Dass Österreich auf eine Anklage Kadyrows nur aus strafrechtlichen Gründen verzichtet hat, können jedenfalls nur wenige Beobachter glauben. 
Wenn das Abwehramt des österreichischen Bundesheeres neben einem landesverräterischen Unteroffizier auch einen russischen Agenten verhaftet, der an die Baupläne des Eurocopter gelangen wollte und der sich kurze Zeit später als diplomatisch immuner „Mitarbeiter“ der russischen Vertretung bei der UNO in Wien herausstellt, trägt das auch nicht unbedingt zu einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen den beiden Staaten bei. Dass die Russische Föderation ihren Auslandsgeheimdienst SWR gerne von ihren Legalresidenturen in Wien aus operieren lässt, ist kein Geheimnis. Wenn es aber zum Nachteil Österreichs geschieht wird die Sache heikel und strafbar.

Hat Russland also seinen ohne Zweifel vorhandenen Einfluss in Österreich geltend gemacht? Mit Verweis auf einen entsprechenden Bericht der russischen Zeitung „Kommersant“ hält der Innsbrucker Politikwissenschafter Gerhard Mangott es zumindest für wahrscheinlich:
„Dies umso mehr, als der Eigentümer dieser Zeitung, Ališer Usmanov, mit der Führung Russlands ausgezeichnet vernetzt ist.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass es politischen Druck Russlands gab. Es lässt sich aber nicht sagen, ob der Druck Russlands tatsächlich der Grund für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft war, Golovatov zu enthaften. Ich wäre aber auch nicht überrascht, wenn es der russische Druck war, der letztlich zur Enthaftung führte.“ Der Standard
Sollte es sich tatsächlich um einen Interessenkonflikt gehandelt haben, so haben sich die beteiligten Parteien vielleicht für die angenehmere, aber womöglich nicht für die richtige Variante entschieden. Klar: Wenn es sich ein mitteleuropäischer Kleinstaat wie Österreich aussuchen kann, ob er sich mit Russland oder mit einem wirtschfts- und sicherheitspolitischen Fliegengewicht am Ostseestrand anlegt, wird er sich rationaler Weise für letztes entscheiden. Dass der Freigang eines gesuchten Kriegsverbrechers auch gewisse moralische Indikationen aufwirft ist natürlich eine andere Frage.

Betrachtet man die vorliegenden Informationen, könnte die österreichische Vorgangsweise aber auch von einer gewissen Ambivalenz geprägt gewesen sein. Immerhin wurde Golowatow nicht sofort enthaftet, auch wenn der zuständige Sektionschef des Justizministeriums später angab, dass man gegen ihn unter den gegebenen Umständen eigentlich gar nichts in der Hand hatte. Dass man Litauen für die Nachbesserung des Haftbefehls nicht die volle Frist einräumte mag ein Zugeständnis auf russischen Druck hin gewesen sein, dass man aber nicht sofort enthaftet hat, könnte doch auf den Versuch hindeuten, dass man den Balten ein Chance geben wollte, die sie schließlich aber nicht nutzten. Es wäre ein typisch österreichisches Verhalten, das - so könnte man meinen - der Handschrift von Diplomaten entspricht, die ihr Handwerk noch im kalten Krieg gelernt haben: Versuch es allen recht zu machen, verärgere keinen großen Nachbarn und sei am Ende nie der Schuldige.
Der grüne Nationalratsabgeordnete Peter Pilz erhebt in diesem Zusammenhang jedenfalls schwere Vorwürfe gegen den Generalsekretär im Außenministerium Johannes Kyrle:
„Mit seiner öffentlichen Erklärung, es habe keine russische Intervention gegeben, hat der Generalsekretär des Außenministeriums ganz offen gelogen.“ orf.at
 Pilz droht dem höchsten Beamten vom Minoritenplatz 8 mit parlamentarischen Konsequenzen. Ob er diese Drohung auch wahr machen kann, bleibt indes fraglich. Die Erfahrung lehrt, dass dem Nationalrat übermittelte Akten oft noch schwärzer sein können, als der Minister der sie aushändigt.

Es bleibt letztendlich nur zu hoffen, dass man nicht mehr lange mitansehen muss, wie die ganze österreichische Nation für das Verhalten ihrer Behörden nach dem Muster der Kollektivschuld mit Füßen getreten wird. Womöglich sollten die Litauer auch darauf verzichten von Österreich als einem kleinen beschissenen Land zu sprechen, solange ihr Land nicht um 20.000 km² wächst oder von mehr knapp 3 Millionen Menschen bevölkert wird. Eventuell wäre es einen Gedanken wert, dass Österreich das erste Land war, das Golowatow festnahm, bei seiner neunten Einreise in den Schengen-Raum, seit er international zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Vielleicht sollten wir uns das nächste Mal aber auch einfach an der finnischen Kreativität orientieren. Für ihr Versäumnis machen die dortigen Stellen die unterschiedliche Schreibweise des Namens Golowatow verantwortlich.

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