Dienstag, 26. Juli 2011

Terror in Norwegen, oder: Wahnsinn bleibt letztlich unbegreiflich.

Anders Behring Breivik hat mindestens 76 Menschen getötet. Er hat sie in die Luft gesprengt oder erschossen. Breivik hat kein pakistanisches Terrorcamp besucht und kann den Koran nicht auswendig. Im Gegenteil, er war ein Typ von nebenan, der sich entsetzlich vor der Überfremdung Europas fürchtete. Der Wahnsinn hat oft ein durchschnittliches Gesicht: das eines amerikanischen Mathematikprofessors, eines österreichischen Vermessungstechnikers oder eben eines norwegischen Agrarökonomen. Anders Breivik ist ein groß gewachsener blonder Bio-Bauer und im Nebenberuf Massenmörder. Wie konnte es nur soweit kommen?

Natürlich. Ein psychopathischer Prototyp sagen die Leute: Lebt allein auf seinem Bauernhof, hat Waffen und ist xenophob. So einer muss doch irgendwann hochgehen. Wirklich? Wie viele rechtskonservative introvertierte Muttersöhnchen oder Waldhüttenbewohner gibt es wohl da draußen und wie viele von ihnen werden tatsächlich irgendwann zu Mördern? Hinter der perversen Tat, die am Freitag vermutlich acht Menschen in der Osloer Innenstadt und 68 auf der Insel Utøya das Leben kostete, steht mehr als nur die verquere Lebensphilosophie eines Einzelgängers. Der Täter hat sich systematisch radikalisiert, vielleicht auch radikalisieren lassen. Klar, eine Wahlkampagne kann noch keinen Anschlag auslösen, aber wenn man suggeriert, dass gewisse Dinge in Ordnung sind, vielleicht sind dann auch andere OK. Rechtsparteien reizen mit ihren Parolen gezielt die Grenzen des Möglichen aus oder überschreiten sie auch allzu oft. Wie groß ist der Schritt vom „Wiener Blut“ zu „Blut und Boden“, vom „Exiljuden“ zum „Saujuden“? Eine politisch enthemmte Gesellschaft kann leichter in eine brutale Zügellosigkeit abgleiten. Waren die Menschen 1938 andere als heute? Was macht den Unterschied? Es ist die öffentliche Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von verbaler Gewalt. 

Breivik war Mitglied der rechtspopulistischen „Fremskrittspartiet“, er war aber auch Mitglied der Freimaurer. Kann man dem einen oder dem anderen Verein nun seine Taten vorwerfen? Man muss sich zunächst fragen, was sein krankes Hirn in diesen Organisationen suchte. Bei der Fortschrittspartei mag ihn deren Ausländerpolitik zugesagt haben, bei den Freimaurern - so lässt sich nur vermuten - der Nimbus aus Geheimgesellschaft und Elitendenken. Christlich, so nannte er sich auch. Eine pervertierung des Begriffs, auch wenn man die Versuch des ORF-Niederösterreich, die Verwendung des Attributs in diesem Zusammenhang zu verbieten, kritisch sehen muss.
Schließlich dürfte sich der spätere Mörder seine Privatideologie aus diversen Versatzstücken gebastelt haben. An der FrP interessierte ihn die Demoktratie und Gewaltlosigkeit nicht. Bei den Freimaurern konnte er wohl kaum etwas mit deren humanistischen Grundgedanken anfangen. Vom eigentlichen Kerninhalt des Christentums dürfte nach der Breivik-Behandlung auch kaum mehr was übrig geblieben sein.

Man kann den Attentäter dieser Tage auf Fotos sehen, deren Verbreitung er durch ihre Platzierung im Internet vor seiner Tat intendiert hat. Man sieht ihn mit Freimaurerschürze, in Phantasieuniform, mit Gewehr im Anschlag. Man sieht einen Menschen, der sich offenbar selbst einen militärischen Ausgehanzug gebastelt hat, mit Gardeschnur, Distinktionen, Aufnähern, Orden und Ordensspange, stoffgewordene Hirngespinste. Anders Breivik muss ein Mensch mit ausgeprägtem Geltungsbedürfnis und geringer Verhaftung in der Wirklichkeit sein. Uniformen sollen mehrere gleich machen. Warum die Uniform einer Ein-Mann-Armee tragen? Gab es Hintermänner oder hat er sich den Rang eines Generals in einem nicht existenten Templerorden rassistischen Zuschnitts erträumt? Mit weißen Handschuhen, goldenen Borten und Koppel sieht der Mehrfachmörder eher zum Lachen, als zum Fürchten aus. Sie sind aber nicht nur Ausdruck seiner Blasiertheit, sondern wohl auch seines Elitedenkens.
Er sei „Monokulturalist“ betont er in seinem über tausend Seiten langen Konvolut aus pseudophilosophischem Geschwurbel und Plagiaten vom Unabomber bis George Orwell. Der „Kulturmarxismus“ und die „Islamisierung“ bedeuteten den Untergang für den europäischen Kontinent. Es sind Angstthemen, die sein Weltbild prägen und daraus resultierende Hassparolen, wie man sie wohl auch auf der facebook-Seite von Werner Königshofer finden kann. Solche Leute gibt es tausende. Häufig im Berufs- oder Privatleben gescheiterte, gekränkte, oft auch einfach nur vom Hass verblendete Hobbyideologen, die nur zu gern anderen die Schuld an ihren Lebensumständen in die Schuhe schieben. Zu dumm um die Dinge differenziert sehen zu können, gescheit genug, um auf noch Dümmere Eindruck zu machen. Dass ihre Hasstheorien aber auch ideologisch austauschbar sind, zeigt, dass der rechtsextreme Exklusionist Breivik weite Teile seines Manifests von besagtem Bombenbastler Theodore Kaczynski abschrieb, der sich selbst als Linker sah. Menschenverachtung hat kein Parteibuch. Letztendlich kann man weder der norwegischen Fortschrittspartei, noch der FPÖ oder dem BZÖ direkte Schuld am Tun und Handeln von Anders Breivik geben. Möglicherweise haben sie das Klima begünstigt, in dem Sumpfblumen wie er erblühen. Jedenfalls müssen sie aber mit der Peinlichkeit leben, in seinem Machwerk lobend erwähnt zu werden.

Aber was bringt nun einen Menschen dazu eine Bombe zu legen und auf einer Ferieninsel Erwachsene, Jugendliche und Kinder wie Tiere zu jagen und zu erschießen? Beraten von niemandem außer sich selbst hat Anders Breivik entschieden, dass es das Beste sei, so viele Menschen wie möglich zu töten, um die Welt auf seine kranken Theorien aufmerksam zu machen. Der Attentäter wollte die norwegische Arbeiterpartei treffen, der er die Hauptschuld am sozial-liberalen Kurs seiner Gesellschaft anlastet. Die ehemalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland entging nur deshalb seinem Anschlag, weil er sich verspätet hatte. Überzeugt davon, das Rezept für ein glückliches, blondes Neonazi-Europa in den Händen zu halten, das die Leute von sich aus überzeugte, sobald sie durch seine Tat nur darauf aufmerksam gemacht würden, fuhr Anders Behring Breivik am Nachmittag des 22. Juli 2011 von Oslo aus in die Gemeinde Hole im Fylke Buskerud und setzte als Polizist verkleidet auf eine Insel im Tyrifjord über. Was er dort tat entzieht sich jedem Ansatz von menschlichem Verständnis und wird sich von diesem Gesichtspunkt aus wohl auch nie erklären lassen. 

Der Mörder handelte aus einem Denkzusammenhang, der sich von dem seiner Mitmenschen so fundamental unterscheidet, dass er für sie letztlich unergründlich bleibt. Kein Mord aus Eifersucht, kein Todschlag aus Zorn: Der Attentäter von Oslo und Utøya handelte aus innerer Überzeugung. Vielleicht ist es das, was uns neben der Grausamkeit seiner Tat so schockiert: Die Tatsache, dass jemand zur Erreichung seiner ideologischen Zielsetzungen den großen Menschheitskompromiss, den kategorischen Imperativ bricht. Für Breivik galt er nicht, weil ihm seine kranke Idee am Ende nicht nur mehr wert war, als das Leben anderer, sondern auch mehr als sein eigenes: Töten und sterben, statt leben und leben lassen. Er habe damit gerechnet - so hieß es in den Medien - auf dem Weg zu seiner Haftverhandlung ermordet zu werden. Die Anhörung, die er gerne öffentlich und in seiner Pseudouniform absolviert hätte, sie sollte der Schlussstein werden in seiner perversen Symphonie des Grauens. 

Einen Märtyrertod hätte er sich gewünscht, bekommen hat er betroffenes Schweigen. Selten hat man ein Volk gesehen, das mit so viel Würde der Niedertracht eines Mannes entgegengetreten ist. Ein nationaler Schulterschluss, ja. Aber keiner von der Sorte, bei dem Politiker über Nacht Ermächtigungsgesetze á la „Patriot Act“ verabschieden, um ihre eigenen machtpolitischen Gelüste zu stillen. Norwegen antwortet mit mehr Freiheit. Das erfordert Mut und Offenheit und verdient Respekt. Ob es aber nach diesen schrecklichen Ereignissen der einzige Weg in die Zukunft sein kann, darf zumindest bezweifelt werden. Norwegen muss sich angesichts dieses beispiellosen Verbrechens überlegen, ob 21 Jahre Haft für einen Massemord, wie es das Strafgesetz vorsieht, angemessen sind. Auch wenn man den Attentäter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen und er für 31 Jahre hinter Gitter kommen sollte: Ist das einer Gesellschaft zumutbar? Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe war sicherlich ein mutiger Schritt, aber Norwegen muss sich fragen, ob es einen 63jährigen Breivik durch die Straßen Oslos spazieren sehen möchte. Bei aller Liberalität der Norweger: Sollte er jemals wieder freikommen, wird er es vermutlich bereuen. Die einzige Möglichkeit seine spätere Freilassung zu verhindern wäre seine Einweisung als geistig abnormer Rechtsbrecher. Und die Abnormität seiner Handlungen wird wohl kaum jemand in Zweifel ziehen.

Anders Breiviks letztlich unbegreifliche Tat lässt 76 Tote zurück, die jüngsten von jenen, die bereits identifiziert werden konnten, waren gerade erst 15 Jahre alt. Er hat Väter, Mütter, Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern und Freunde ermordet und ihre Angehörigen mit Trauer und Schmerz überschüttet. Er hat die Lebensweise eines ganzen Landes angegriffen, die Entscheidung eines Volkes eine Kultur der Offenheit zu leben. Er wusste wie man auf seine Anschläge reagieren würde und nahm die Opfer als, für die Verwirklichung seiner Idee notwendig, in kauf. Der Tod von mindestens 76 Menschen war aber nicht nur für sie, sondern auch für ihren Täter sinnlos. Seine Ziele sind letztendlich an der Weigerung der Norweger gescheitert, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
„Wenn ein Mann so viel Hass zeigen kann, stellt euch vor, wie viel Liebe wir gemeinsam zeigen können.“ Stine Renate Håheim

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